Tibetische Thangkas deuten - Teil 2

Übertragungslinien und Anordnung

von David Jackson

Die Darstellung von Übertragungslinien ist eine wichtige Quelle für diejenigen, die sich mit der tibetischen Kunst beschäftigen, da sie dabei helfen, die Gesamtstruktur und damit die Bedeutung eines Bildes zu entschlüsseln. Darüber hinaus können Übertragungslinien für ein besseres Verständnis der tibetischen Kunstgeschichte, der Ikonographie und sogar allgemein der religiösen Kultur wichtig sein.

Die einzelnen Figuren innerhalb einer ikonographischen Klasse sind hierarchisch angeordnet. Es gibt eine Reihe von Konventionen, um in einem tibetisch-buddhistischen Gemälde die Positionen einer absteigenden Reihenfolge zu definieren. Das Vorhandensein einer Übertragungslinie kann in dem Gemälde äußerst nützlich sein, da sie oft das Muster für die restliche Darstellung festlegt. Die Meister der Übertragungslinien gehören zu den höchsten aller ikonographischen Klassen. Selbst wenn sie im Verhältnis zu den unmittelbaren spirituellen Prioritäten des Auftraggebers als "untergeordnete Figuren" dargestellt werden, nehmen sie räumlich gesehen die höchste Stellung in einem Gemälde ein. In vielen wichtigen alten Bildern ist ihr Vorhandensein oben im Bild oder sowohl oben als auch in der linken und rechten Spalte kaum zu übersehen.

Im Laufe ihrer Geschichte zeigten die tibetischen Buddhisten eine Vorliebe für die Darstellung von Übertragungslinien. Die daraus resultierenden Portraits sind von größter Bedeutung, sowohl als Beleg für die Geschichte einer bestimmten Linie und die ikonographische Darstellung ihrer Meister, als auch - wenn die Linie vollständig ist - als wichtiger Hinweis auf die Datierung eines Gemäldes. Auch in anderen Bereichen wie dem Ritual oder der Praxis machten die tibetischen Buddhisten genaue Aufzeichnungen und überlieferten ihre Lehrlinien (soweit dies möglich war), zweifellos wegen der Wichtigkeit der Übertragungslinie in den esoterischen oder Mantrayana-Traditionen des Mahayana- Buddhismus.

In den tantrischen Traditionen waren solche Linien von essentieller religiöser Bedeutung: Die Meister der Übertragungslinie mußten als Vorbereitung zur Praxis rituell angerufen werden. Dieser Respekt vor den Linien leistete einen Beitrag zu einem tiefen und sehr konkreten Geschichtssinn unter zahlreichen tantrischen Meistern des tibetischen Buddhismus - im Gegensatz zu den gewöhnlichen Mönchsgelehrten oder Geshes, deren hauptsächliche Schulung aus dem systematischen Studium der nicht-tantrischen Lehre durch Auswendiglernen und Debatte bestand und die typischerweise weniger textlich und historisch orientiert war.

 
Da die Übertragungslinie für die tibetisch-buddhistische Praxis so bedeutend war, schrieben die einzelnen Meister die entsprechenden Linien für die tantrischen Belehrungen, die sie von ihren verschiedenen Lehrern erhielten, auf. Die daraus entstandenen Bücher beinhalten oft wenig mehr als reine Listen mit den Namen der Meister und den Titeln von Büchern oder Belehrungen, dennoch stellen sie in der tibetischen Literatur eine eigene Gattung dar, die sogenannten "Aufzeichnungen der erhaltenen Belehrungen". In der Kunst wurde diese Hochachtung vor den Übertragungslinien in sorgfältigen Portraits zahlreicher Guru-Übertragungslinien deutlich. Gemalte Übertragungslinien sind der künstlerische Ausdruck desselben Anliegens, das seine rituelle Entsprechung in Form der Rezitation der Gebete an die Überlieferungslinie findet.

Wie anderswo bei dem Entwurf eines Gemäldes, so ist auch den Portraits der Überlieferungslinien ein ordentliches und exaktes System zugrundegelegt. Gemalte Überlieferungslinien können chronologisch gelesen und so als historische Aufzeichnungen interpretiert werden. Doch für eine korrekte Interpretation muß man in jedem einzelnen Fall bestimmen, welche spezielle Konvention chronologischer Reihenfolge tatsächlich angewendet wurde. Hierfür ist es am besten, (A) den Anfangspunkt zu bestimmen. Dann ist es viel einfacher, dem weiteren Verlauf der Linie zu folgen, um so (B) die genaue Konvention festzustellen, die der Darstellung der zeitlichen Abfolge oder chronologischen Reihenfolge der nachfolgenden Figuren zugrundeliegt.

Übertragungslinien beginnen üblicherweise mit dem ursprünglichen Lehrer. Daher beginnen sie fast immer mit einem Buddha, der in den tantrischen Traditionen der ursprüngliche tantrische Lehrer ist. Dieser allererste Lehrer ist bei den tibetischen tantrischen Schulen der "Neuen Übersetzung" (gSar-ma-pa) Vajradhara, ein blauer Buddha als Sambhogakaya, der ein Vajra und eine Glocke in seinen gekreuzten Händen hält. Bei den Tantras der Schule der "alten Übersetzung" ist er der Urbuddha Samantabhadra. Bei den nicht-tantrischen Traditionen kann man als Anfangspunkt den historischen Buddha Shakyamuni (als Nirmanakaya) erwarten.

Die Position dieser Figur kennzeichnet den Anfangspunkt der Überlieferungslinie. Es gab mehrere künstlerische Konventionen in Bezug auf den Anfangspunkt, doch die beiden geläufigsten sind:

Die linke obere Ecke (in Bezug auf den Betrachter, also die rechte obere Ecke in Bezug auf die Gottheiten). Dies scheint die älteste Konvention zu sein, und sie ist gut geeignet bei Gemälden, in denen die Figuren in geraden Reihen und Spalten angeordnet sind. Die obere Mittelposition. Dies wurde seit dem frühen 15. Jh. zur geläufigsten Konvention, kommt allerdings auch schon in einigen früheren Gemälden vor. Sie ist gut geeignet, wenn die Figuren in einer realistischeren Landschaft plaziert sind.

Es gibt aber auch Ausnahmen, beispielsweise wenn die erste Figur zur Linken (in Bezug zum Betrachter) der oberen Mittelposition sitzt. Hier hat dann eine andere Figur (der Guru des Auftraggebers) aus Gründen des besonderen Respekts die obere Mittelposition eingenommen.

Sobald man einmal den Anfang der Überlieferungslinie bestimmt hat, ist es normalerweise nicht schwierig, den weiteren Verlauf zu erkennen.

Eine einzelne Übertragungslinie in einem Gemälde

In den meisten Gemälden wird eine Übertragungslinie mit der letzten Nebenfigur abgeschlossen. In Gemälden, die Lamas als Hauptfiguren darstellen, beenden einige jedoch die Linie, indem sie vom letzten Lehrer der Nebenfiguren zur Hauptfigur springen. Im zweiten Fall stellt die Hauptfigur (oder manchmal einige Hauptfiguren) zusammen mit den Nebenfiguren eine einzige vollständige Linie dar. (Dies war möglicherweise der Fall bei Pal 1984, Tafeln 35 und 41, und Pal 1991, S. 155, Nr. 87.)

Häufig findet man in ein und demselben Bild einen kleinen Teil einer Linie (repräsentiert durch eine einzelne Hauptfigur) und eine weitere vollständige Linie (repräsentiert durch eine Reihe kleinerer Nebenfiguren). Dabei gehört das Bild zu einer Serie aus mehreren Thangkas, und die Linie der Hauptfigur wird durch die zahlreichen anderen Bilder derselben Serie fortgeführt. Es war auch möglich, einen noch größeren Teil einer unvollständigen Linie als Hauptfiguren darzustellen - beispielsweise zwei oder vier Meister der Sa-skyapa Lam `bras Lehren - und diese mit Nebenfiguren zu umgeben, die eine komplette Linie von Lehrern einer anderen Übertragungslinie darstellen. (Siehe beispielsweise Jackson 1996, S. 81, Abb. 24.) Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Teile zweier unterschiedlicher Linien in einem einzigen Bild darzustellen: eine Teillinie besteht dabei aus mehreren Hauptfiguren und die andere Teillinie aus mehreren Nebenfiguren. Als Beispiel sei hierfür die Thangka-Serie genannt, bei der jedes Thangka vier Meister der Lam`bras-Linie sowie die Hälfte einer zweiten (ungenannten) Linie darstellt. Siehe Pal 1983, S. 84, Tafel 20 (P15).

2 Eine andere mögliche Schwierigkeit besteht darin, daß sich gelegentlich eine Linie verzweigt oder gabelt, und wenn dies vom Auftraggeber als bedeutsam erachtet wurde, so konnte dieser Sachverhalt dadurch zum Ausdruck kommen, daß beide Zweige getrennt dargestellt wurden.

3 Schließlich kann es vorkommen, daß zwei getrennte Linien durch die Nebenfiguren präsentiert werden. Auch das kann als eine Art Verzweigung betrachtet werden; dabei erfolgt die Trennung bereits beim ursprünglichen Lehrer (z.B. Vajradhara). Beispielsweise kann ein Thangka zwei Reihen von Nebenfiguren abbilden, die nach rechts und links unten verlaufen, wobei jede Reihe eine bestimmte Nebenlinie darstellt. (Siehe Rhie und Thurman 1996, S. 440, Nr. 192 [16a].) Oder es können vollständige Linien, jede mit einer eigenen Ausgangsfigur, dargestellt werden, wie in V. Reynolds u.a. 1986, Tafel 11 (P12).

Nähert man sich darüber hinaus den zwei oder drei letzten Jahrhunderten, so kann man feststellen, daß die Übertragungslinien kaum noch vollständig dargestellt werden. Das heißt nicht, daß die Linien ihre religiöse Bedeutung eingebüßt hätten, sondern daß sie zu lang wurden, um noch einfach auf einem Bild dargestellt werden zu können. Anstelle einer vollständigen Linie wird es nun üblich, eine Auswahl der größten Gründungsmeister und Halter der Linie abzubilden. So werden jedoch die wenigen Bilder mit vollständigen Linien aus dem 19. oder 20. Jahrhundert umso wichtiger.

4 Man muß außerdem darauf achten, nicht jede Anordnung indischer Meister und tibetischer Lamas, die so ähnlich aussieht, als Übertragungslinie zu interpretieren. Bei einer Zeile oder absteigenden Spalte aus Pandits oder Siddhas kann es sich in Wahrheit um eine Standard-Anordnung indischer Meister handeln, wie beispielsweise die "Sechs Schmuckstücke und die Zwei Vortrefflichsten" oder die "Acht Großen Adepten", und nicht um den Beginn einer Übertragungslinie.

Darstellungen von Tulku-Linien:

Ab dem 16. und 17. Jahrhundert kommt es vor, daß eine Reihe vorheriger Leben eines reinkarnierten Lamas ("tulku") dargestellt wurde, wo man eine Guru-Übertragungslinie vermuten würde. (Siehe hierzu beispielsweise Rhie und Thurman 1991, S. 251, Nr. 87.) Ein weiteres auffälliges Beispiel stellen Rhie und Thurman 1991, S. 184, Nr. 51 "Nyingma Lama" dar, wo die Hauptfigur der große Meister und Historiker der Sakyas im 17. Jahrhundert, A-mes-zhabs Ngag-dbang-kun-dga?-bsod-nams (1597-1659) ist und die Nebenfiguren seine vorherigen Leben darstellen. Hier beinhaltet die Reihenfolge der Figuren einige offensichtliche Lücken, die auf den ersten Blick Zweifel daran entstehen lassen, daß eine ununterbrochene Linie von Meistern und Schülern dargestellt wurde. Diese Auflistung birgt sogar als Abfolge von Tulku-Wiedergeburten Schwierigkeiten in sich, denn einige der Leben überlappen sich ganz offenkundig - Bla-ma-dam-pa dSod-nams-rgyal-mtshan (1312-1375) und Theg-chen Chos-rje Kun-dga?-bkra-shis (1349-1425) waren beispielsweise Onkel und Neffe.

Spiegelt sich hierin eine wissenschaftliche Schludrigkeit seitens der Person wieder, die als erstes die Linie der vorherigen Leben recherchierte? Es war zwar mit der Lehre vereinbar, daß ein erleuchteter Meister sich gleichzeitig in zwei Formen manifestiert haben könnte, dennoch ist diese Erklärung nicht gerade elegant. Darstellungen verschiedener Lehrer derselben Generation: Eine andere möglicherweise täuschende Anordnung ist die verschiedener Lehrer derselben Generation oberhalb des Kopfes der zentralen Figur. In diesem Fall ist keine Linie dargestellt, selbst wenn es auf den ersten Blick so aussieht. (Siehe die Darstellung von Sa-chen mit seinen Lehrern in Rhie und Thurman 1991, S. 201, Nr. 61.)

Diese besondere Anordnung ist jedoch sehr selten, und es gibt keinen Hinweis auf einen etwaigen Bedeutungsverlust der echten Übertragungslinien zu dieser Zeit.

Allgemein sind die gemalten Darstellungen von Übertragungslinien in sorgfältig ausgeführten Thangkas eine genaue Darstellung des zeitgenössischen Wissens und Urteils über eine bestimmte Linie. Besonders auf die letzten Generationen, die sie darstellen, kann man sich als einigermaßen verläßliche historische Aufzeichnung verlassen, wie man manchmal durch Überprüfung der entsprechenden Schriftquellen bestätigen kann. In manchen Fällen mußten sich die Lamas, die das Gemälde planten, ebenfalls auf die besten verfügbaren Schriftquellen stützen.

Teilweise dienen die Inhalte der Bilder als äußerst seltene Aufzeichnung von sonst undokumentierten Linien.Die obigen Anmerkungen über historische Genauigkeit beziehen sich jedoch hauptsächlich auf den tibetischen Teil der Übertragungslinien. Es ist möglich, daß die frühen indischen Teile halb-legendäre oder sogar legendäre Materialien von sehr begrenztem historischen Wert verkörpern, wenngleich dies nicht bedeutet, daß alle Bezüge auf indische Meister abgetan werden sollen.

David Jackson ist Professor für Tibetisch am Institut für Kultur und Geschichte Indiens und Tibets an der Universität Hamburg. Er erlangte den Titel eines Ph.D. in (Tibetischen) Buddhistischen Studien von der Universität Washington im Jahre 1985. Er arbeitete intensiv zur Thangka-Malerei und erforscht im Moment die Biograhie Dezhung Rinpoches (1906-1987).


Übersetzung aus dem Englischen von Christine Ehrhardt

Bibliographie:

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- Reynolds, V.; A. Heller und J. Gyatso 1986. The Newark Museum Tibetan Collection. Vol. III, Sculpture and Painting. Newark, The Newark Museum.
- Rhie, M. und R. Thurman 1991. Wisdom and Compassion: The Sacred Art of Tibet. New York, Henry N. Abrams.
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Fußnoten:

1 Hier ist ein Vergleich mit der Bemerkung von Dan Martin 1997, S. 15, interessant: "Die beinahe universelle Sorge der tibetischen religiösen Schulen um die "Übertragungslinie" ist ein Hauptanliegen von äußerst historischer Natur."
2 Der Aufbau dieses Bildes wurde beschrieben in Jackson 1990, S. 132-136.
3 Siehe Pal 1983, S. 82, Tafel 18 (P13). Der Aufbau dieses Bildes wurde in Jackson 1990, S. 130-132 beschrieben.
4 Siehe beispielsweise die wichtige neueste 'Brug-pa-Linie in Pal 1984, Tafel 95 (beschriftet), und die Thangka der 'Bri-gung-pa-Linie in Jackson 1996, S. 343, Tafel 64.