Praktizieren Sie die Essenz des Buddhismus

S.H. der Dalai Lama antwortet auf Fragen

FRAGE: Wie lange sollte man dulden, wann ist Handeln angesagt? Woran erkenne ich, daß ich handeln sollte? Muß man manchmal auch äußere Umstände verändern oder nur sich selbst?

DALAI LAMA: Shantideva sagt im Bodhicaryavatara sinngemäß: Die schädigenden Wesen sind so weit wie der Raum. Es ist unmöglich, sie alle zu zähmen. Zähme ich jedoch meinen eigenen Geist, das heißt den eigenen Ärger und die Unzufriedenheit, dann habe ich alle Widersacher überwunden. Shantideva gibt dazu noch einen Vergleich: Es könnte der Gedanke aufkommen, wir müßten die ganze Erde mit Leder überziehen, um nicht den Schmerz von Dornen und Steinen zu spüren. Dies ist jedoch unrealistisch. Ziehen wir uns hingegen das Leder unter die eigenen Füße, dann ist es, als wäre die ganze Welt mit Leder bedeckt. Bei der Übung von Geduld kommt es auf die innere Einstellung an, mit der wir den Widrigkeiten begegnen. Geduld bedeutet nicht Kapitulation und das Hinnehmen von Schädigungen, ohne eine Reaktion zu zeigen. Es ist richtig, Mittel anzuwenden, um Schaden abzuwenden. In den Bodhisattva- Regeln ist es beispielsweise eine Verfehlung, wenn ein Übender nicht auch restriktive Mittel einsetzt, um dem negativen Verhalten anderer etwas entgegenzusetzen. Das heißt, er verstößt gegen die Bodhisattva-Ethik, wenn er die Schädiger einfach gewähren läßt, ohne einzuschreiten. Eine Reaktion ist also wichtig, um Schaden zu begrenzen, allerdings ohne eine Haltung von Haß und Feindseligkeit gegenüber dem Schädiger. Das ist die eigent-liche Bedeutung von Geduld: daß wir aktiv gegen Schaden handeln, ohne selbst unter die Kontrolle negativer Geistesfaktoren zu geraten. Wenn man Unrecht immer zuläßt, wird der Schädiger sich an sein unheilsames Verhalten gewöhnen; die schlechte Gewohnheit schadet ihm selbst und der Gesellschaft. Deshalb ist es ratsam, die Situation zu untersuchen: Wie entsteht negatives Verhalten, was läßt sich dagegen unternehmen? Auf der Basis dieser Situationsanalyse entwickeln wir ein echtes und ernsthaftes Interesse, dem etwas entgegenzusetzen. Allerdings ist es auch möglich, daß eine Person selbst auf Kosten ihres Lebens andere nicht schädigt. Lieber würde sie ihr eigenes Leben aufgeben, als einen drohenden Schaden dadurch abzuwenden, daß sie den Schädiger tötet oder verletzt. Auch dies ist eine Form der Geduld. So ist eine allgemeine Antwort schwierig, man muß die Situation untersuchen und sich fragen, was für die eine oder andere Reaktionsweise spricht.

Ein Beispiel ist die Situation Tibets: Als Tibeter ist es unsere Aufgabe, gegen die Unterdrückung und Ungerechtigkeit vorzugehen, ohne gegenüber den Chinesen eine Haltung von Ärger aufzubauen. Wir müssen uns aufrichtig bemühen, unsere Widersacher mit Liebe und Mitgefühl zu betrachten und in diesem Geist mit der Kraft der Gerechtigkeit und der Wahrheit die Fehler, die begangen werden, zu korrigieren versuchen. Das Prinzip der Geduld findet im Buddhismus oft Erwähnung, es bedeutet jedoch nicht eine passive Haltung.

Ich habe mit einem ehemaligen Abt gesprochen, der 18 Jahre im chinesischen Gefängnis verbracht hatte und dann ins indische Exil kam. Er sagte zu mir: "Manchmal war es sehr schwierig, und ich habe befürchtet, mein Mitgefühl mit den Unterdrückern zu verlieren." Dies ist die Haltung der Geduld. Natürlich hat der Mönch die Schädigungen nicht akzeptiert. Es gibt auch andere Fälle. Kürzlich traf ich einen Mann aus Amdo, der jetzt ebenfalls im Exil lebt, und ich fragte ihn, ob er auf die Chinesen ärgerlich sei. Schon bevor er antworten konnte, rötete sich sein Gesicht, und er bebte am ganzen Körper. Er sagte mir, daß er sehr wütend auf die Chinesen sei.

FRAGE: Europäer, die unter der Anleitung von asiatischen Lehrern Buddhisten werden, praktizieren Rituale, die sie von diesen Meistern gezeigt bekommen und die der Kultur und Tradition Asiens entsprechen. Die Buddhisten im Westen schätzen die seltene Gelegenheit im Allgemeinen sehr, einen qualifizierten Lehrer aus dem Osten zu finden. Nach einer gewissen Zeit halten es einige von ihnen jedoch für notwendig, ihre persönliche Situation vor ihrem eigenen kulturellen Hintergrund zu untersuchen und versuchen, einen anderen Weg zu finden, um den Buddhismus, angepaßt an westliche Bedingungen, zu praktizieren. Zudem gibt es oft Verständigungsprobleme, die eine enge Verbindung zum Lehrer erschweren, was besonders auf dem tantrischen Pfad Probleme mit sich bringt. Was raten Sie in dieser Situation?

DALAI LAMA: Ich habe schon oft gesagt, daß wir die eigene Kultur und Religion nicht einfach aufgeben sollten, ohne sie selbst genauer erforscht und schätzen gelernt zu haben. Die angestammte Tradition zugunsten einer anderen Religion vorschnell über Bord zu werfen, kann Schwierigkeiten bereiten. Andererseits mag für manche Menschen eine östliche Religion hilfreicher sein als die Tradition ihres eigenen Landes. Jeder einzelne hat das Recht, die Religion für sich zu wählen, die er für am nützlichsten hält. Wichtig ist, wenn wir die Religion einer anderen Kultur, speziell den Buddhismus annehmen, daß wir die Essenz praktizieren. Es gibt äußere Aspekte, die mit den Sitten und Gebräuchen des Ursprungslandes zusammenhängen, aber diese sind sekundär. Wir müssen die essentiellen und die sekundären Aspekte der Religion unterscheiden.

Der tibetische Buddhismus wurde von Indien nach Tibet überliefert, aber er hat in Tibet eine besondere Ausprägung erfahren - und zwar in der buddhistischen Kunst, in der Musik, in den Ritualen. Hier hatten sicher die speziellen Gegebenheiten Tibets Einfluß auf die Ausprägung der Lehre. Das gleiche wird auch geschehen, wenn der Buddhismus in den Westen kommt. Auch hier werden Aspekte der hiesigen Kultur und Lebensweise in die buddhistische Praxis einfließen. Der Ursprung, das Fundament der Lehre ist jedoch gleich. Betrachten Sie meine Erklärungen. Ich zitiere größtenteils indische Meister und nicht tibetische, und das ist auch üblich. Die großen Meister Tibets schätzten die indischen Schriften und verlassen sich darauf, weil der Buddha in Indien lehrte und seine Lehren dann von großen indischen Meistern durch Studium und Praxis verifiziert wurden. So haben wir eine verläßliche Quelle, wenn wir uns mit dem Buddhismus beschäftigen. Es heißt nicht, daß alle indischen Meister und Schriften als gleichwertig angesehen werden können. Vor allem die Schriften, die sich wirklich bewährt haben und begründet sind wie die Schriften der Meister aus den großen Klosteruniversitäten Kamalaoeila oder Nalanda, sind eine verläßliche Quelle.

Wenn der Buddhismus in ein neues Land überliefert wird, muß man sich um die Kenntnis der eigentlichen Grundsätze bemühen und sich daran orientieren. Betrachten wir die verschiedenen Religionen oberflächlich, erscheinen uns zuerst die Äußerlichkeiten. Beim Buddhismus denken wir vielleicht an safranfarben gekleidete Mönche und Nonnen, beim Christentum erscheinen einem Kirchen und das Kreuz, im tibetischen Buddhismus sind es Rituale mit Trommeln und anderen Instrumenten, die womöglich noch mit denen afrikanischer Medizinmänner oder mit denen des tibetischen Bön verwechselt werden. Dies ist die falsche Herangehensweise. Die Äußerlichkeiten sind nebensächlich. Entscheidend sind die Inhalte, die aus den Schriften und Erfahrungen der indischen Meister überliefert wurden. Wenn wir an den Buddhismus denken, sollte uns zuerst die Bedeutung der Befreiung, des Nirvana einfallen. Wir sollten uns fragen, was die Qualität der Befreiung ist und wie sie erlangt wird. Das ist die Essenz des Buddhismus.

Wenn wir von einem westlichen Buddhismus sprechen, ist zu berücksichtigen, wie sich die Entwicklung in Tibet vollzog. Erfahrene Meister aus Indien trafen mit qualifizierten tibetischen Schülern zusammen, die die Lehren erst einmal übersetzten. Man hat nicht einfach irgendetwas weitergegeben oder übernommen, sondern die Essenz der buddhistischen Inhalte akribisch und sorgfältig überliefert. Ähnlich ist es, wenn der tibetische Buddhismus nach Europa kommt. Es ist gut, sich an qualifizierte tibetische Lehrer zu halten, die die Lehre sowohl von ihrer Kenntnis als auch von ihrer Verwirklichung her authentisch nahe bringen. Die Schüler sollten ein tiefes Interesse entfalten, die Essenz des Buddhismus zu finden, und sich nicht mit Oberflächlichkeiten zufrieden geben. Wie Tsongkapa sinngemäß sagt: Wenn die Ursachen für den spirituellen Weg bloß in einem Gemisch bestehen, wird auch das Resultat nur ein Mischmasch sein. Dann besteht die Gefahr, daß der eigentliche Gehalt der Lehre verloren geht.

Sicher gibt es Schwierigkeiten bei der Überlieferung der Lehre wie die fremde Sprache, die anderen Lebensgewohnheiten, aber wir sollten auch das Positive sehen. Als westliche Schüler bemühen Sie sich ernsthaft, den Buddhismus kennen zu lernen und zu üben. Bei uns Tibetern ist es oft so, daß wir diese Anstrengungen nicht aufbringen, nicht einmal gegenüber der Lehre, die wir im eigenen Land zur Verfügung haben. Zwar sind wir Buddhisten, aber eine solide Praxis auf der Basis eines fundierten Wissens ist selten anzutreffen. Daß Sie sich trotz der Barrieren so enthusiastisch bemühen, ist sehr lobenswert, beeindruckend und kostbar.

Wenn Lehrer in einem anderen Land unterrichten, sollten sie eine echte, aufrichtige Motivation haben, den Interessierten mit ihren Erklärungen zu helfen. Mitgefühl ist wichtig, das betont auch Aryadeva in seinen "400 Versen": Wenn ein Schüler ernsthaft interessiert ist, liegt es in der Verantwortung des Lehrers, diesem aus echtem Mitgefühl heraus auf dem spirituellen Weg zu helfen. Ich bin froh zu sehen, daß dies im Fall der tibetischen Lehrer auch geschieht. Es wäre falsch, würden sie nur herkommen, um Zentren zu gründen, sich eine Basis zu schaffen, um angenehm leben und sich von ihren Schülern bedienen lassen zu können. Dann wäre es besser, sie blieben in Indien. Natürlich brauchen die Lehrer ihr Auskommen, aber sie sollten Genügsamkeit üben. Es ist wenig sinnvoll, anderen Genügsamkeit zu predigen und diese selbst nicht zu leben. Wer beispielsweise in den Westen kommt, um möglichst viel Geld anzuhäufen, ist kein geeigneter Lehrer. Eine gute Motivation ist unabdingbar. Beispielsweise haben die USA 1000 Tibeter aufgenommen, damit sie dort studieren können. In diesem Fall besteht auch für ihre Verwandten die Möglichkeit, nach Amerika einzuwandern. Da es als Mönch leichter ist, ein Visum zu erhalten, legen einige Tibeter ein Mönchsgelübde ab, um schnell dort einreisen zu können. Sie legen die Roben an, scheren sich die Haare und rauchen womöglich noch eine Zigarette, ehe sie ins Konsulat in Indien oder Nepal gehen, um sich die Papiere zu besorgen. Dadurch verkehren sie die Lehre des Buddhas in ihr Gegenteil. Die asiatischen Lehrer, die in den Westen kommen, sollten sich um eine korrekte Dharma-Motivation und ein gutes Verhalten sorgen.

Die Hingabe an den Lama ist besonders wichtig für diejenigen, die das Höchste Yoga-Tantra praktizieren. Für sie ist es unabdingbar, ein enges, hingebungsvolles Verhältnis zum Lehrer zu haben. Auf anderen Stufen der Praxis ist dies nicht so relevant. Im großen Lamrim-Text erklärt Tsongkapa das Anvertrauen an den geistigen Lehrer und zitiert einige Stellen aus tantrischen Schriften. Dies ist ein Indiz dafür, daß der Lamrim im Hinblick auf das Tantra, speziell das Höchste Yoga- Tantra gelehrt wird. Es wäre unüblich, Zitate aus dem Zusammenhang zu reißen und als Begründung heranzuziehen, wenn nicht auch der erklärte Sachverhalt damit in Verbindung stünde. Man sollte sich fragen, ob man als westlicher Schüler das Tantra wirklich praktizieren möchte oder nicht. Natürlich wird das Tantra gelehrt, weil es Teil des tibetischen Buddhismus ist. Dennoch kann man verschiedene Ebenen der Praxis unterscheiden - sowohl von der Seite des Schülers als auch von der Seite des Lehrers her. Wer vollständig praktizieren und auch die Hingabe an den Lama üben möchte, sollte vorher genau überprüfen, ob der Lehrer die entsprechende Qualifikation und Motivation hat und sich ihm nicht einfach willenlos anvertrauen, ohne seinen Verstand zu benutzen.

FRAGE: Welche Folgen hat ein Selbstmord, wenn man trotz aller Bemühungen seine Leiden nicht mehr ertragen kann?

DALAI LAMA: Wenn bedrohlich und unerträglich erscheinende Leiden auftauchen, ist Selbstmord aus buddhistischer Sicht grundsätzlich nicht angemessen. Es ist immer besser weiterzuleben und die Potentiale des menschlichen Lebens zu nutzen. Dies ist eine allgemeine Aussage, die nicht unbedingt auf jede Situation zutreffen muß. Es kann auch sein, daß eine Person nicht mehr in der Lage ist, positive Geisteszustände wie Liebe und Mitgefühl oder die Erkenntnis der Leerheit hervorzubringen.

Im Buddhismus kennen wir die Praxis der Bewußtseinsübertragung (Tib. Powa), bei der der Geist bewußt aus dem Körper herausbefördert und in ein reines Land überführt wird. Macht ein Übender Powa zu früh, also solange der Tod noch nicht sicher ist, wird es als Selbsttötung angesehen, als eine sehr unheilsame Handlung. Geschieht die Bewußtseinsübertragung zu spät, also wenn der Todesprozeß schon zu weit fortgeschritten ist, wäre es auch der falsche Moment, denn die Person wäre nicht mehr in der Lage, einen heilsamen Geisteszustand zu entwickeln, der nötig ist, um das Bewußtsein in ein reines Land zu überführen. So muß man Powa anwenden, bevor der Todesprozeß richtig beginnt. Von diesem Aspekt her kann es richtig sein, den Geist bewußt vom Körper zu trennen, bevor der natürliche Tod eintritt. Auch sind Fälle zu berücksichtigen, in denen keinerlei Hoffnung auf Besserung mehr besteht. Zum Beispiel gibt es Diskussionen über Sterbehilfe, die es einem Sterbenden aus Mitgefühl ermöglicht, sein Leben schneller zu beenden, um seine Qualen zu lindern. Ich finde es schwierig, die Frage allgemein zu beantworten, man muß es von der jeweiligen Situation abhängig machen und schauen, in welchem Zustand sich der Betroffene befindet, welche Möglichkeiten er noch hat, heilsame Geisteszustände zu entwickeln. Allgemein gesprochen ist es wichtig zu versuchen, das Bewußtsein in einen heilsamen, ausgeglichenen Zustand zu versetzen. Wenn jede Hoffnung darauf ausgeschlossen ist, mag ein vorzeitiger Tod gerechtfertigt sein. Wenn ein Tantra Praktizierender die Powa-Praxis zu früh einleitet, vielleicht sogar noch, bevor überhaupt feststeht, daß er sterben wird, wird es gleichgesetzt mit dem Töten einer Gottheit, eine im Tantra sehr negativ bewertete Handlung. Die Frage der Selbsttötung hat sehr viele ethische Aspekte. Ein Bodhisattva zum Beispiel kann sein Leben opfern, um das Wohl anderer zu bewirken. In diesem Fall handelt es sich natürlich nicht um Selbstmord. Grundsätzlich sind alle Handlungen, die aus Wut und Aggression heraus unternommen werden, sehr negativ. Tötet man aus Aggression eine andere Person, ist es sehr unheilsam, bereitet man aus Aggression dem eigenen Leben ein Ende, ist es ebenfalls eine sehr negative Tat.

FRAGE: Ist es möglich, daß Goethe, Einstein, Kant als Tiere wiedergeboren werden?

DALAI LAMA: Hier handelt es sich um Persönlichkeiten, die sicherlich hohe Tugenden und Erkenntnisse besitzen. Grundsätzlich kann eine Person eine andere Person nicht wirklich einschätzen. Von außen her sind die Qualitäten und Fehler eines anderen schwer zu beurteilen, von daher sind sichere Aussagen schwerlich zu treffen. Tatsache ist, daß guter Ruf und Berühmtheit kein Schutz vor niedrigen Daseinsbereichen sind. In einem buddhistischen Vers heißt es, daß selbst Götter wie Brahma oder universelle weltliche Herrscher letztlich auch in niedrige Existenzen fallen können, wenn ihr positives Karma aufgebraucht ist. Sicher kann man sagen, daß Philosophen und Wissenschaftler im Allgemeinen wahrheitsliebend, aufrichtig und unparteiisch sind und von daher eigentlich einen ausgeglichenen Geisteszustand haben müßten. Ein Problem könnten höchstens Stolz und Überheblichkeit darstellen.

Aus dem Tibetischen von Christof Spitz