Die Kagyü-Tradition

Der Begründer der Kagyü-Tradition (bKa rgyud) des tibetischen Buddhismus war der große Übersetzer Marpa (1012-1098). Er wurde im südtibetischen Distrikt von Lhodrag geboren. Von dem Übersetzer Drogmi erlernte er Sanskrit. Angespornt durch seine Entschlossenheit, die Lehre zu meistern, verkaufte Marpa all seine weltlichen Güter gegen Gold und machte sich auf den Weg nach Indien. Dort traf er auf einen der berühmtesten Vajrayana-Lehrer jener Zeit, den Meister Naropa, der nahe bei dem weithin bekannten Kloster Nalanda lebte. Naropa empfing ihn freudig und weihte ihn in verschiedene tiefgründige Lehren, einschließlich der Sechs Yogas von Naropa ein, die auch von den anderen Schulen des tibetischen Buddhismus übernommen wurden.

Marpa war von seinem ersten Aufenthalt in Indien nicht befriedigt, sondern kehrte noch zwei weitere Male nach Indien zurück, um noch mehr heilige Schriften der Vajrayana- Tradition nach Tibet zu bringen, die er dann später auch übersetzte. In Tibet traf er mit Atisha zusammen.

Während Marpa in Tibet Belehrungen gab und den Dharma verbreitete, schloß sich ihm ein außergewöhnlicher Schüler, Milarepa ("der Baumwollgekleidete") an, dessen autobiographischen Einhunderttausend Gesänge, in denen er seine spitituellen Erfahrungen beschreibt, eines der Juwelen innerhalb der tibetischen Literatur darstellt.

Milarepa (1040-1123) wurde im Distrikt Gungthang geboren, nicht weit von der nepalesischen Grenze entfernt. Als er noch sehr jung war, starb sein Vater und ließ die ganze Familie in Armut zurück. Weil sich Milarepas Mutter weigerte, den Bruder ihres Gatten zu heiraten, nahm ihnen dieser auch noch den letzten Rest des übrig gebliebenen Eigentums fort. Milarepas Mutter sann auf Rache und veranlaßte ihren Sohn, sich in der Kunst der schwarzen Magie ausbilden zu lassen, um dann den Feinden der Familie Unglück und Verwüstungen bringen zu können. So zerstörte Milarepa unter Anwendung seines neu erworbenen Wissens Besitztum und Leben jener, die das Unglück über seine Familie gebracht hatten. Schon kurz danach wurde Milarepa jedoch von heftigen Gewissensbissen über seine begangenen schrecklichen Untaten geplagt und faßte daraufhin den Entschluß, die Erleuchtung zum Wohle der Wesen zu erlangen. Schließlich wandte er sich an den berühmten Übersetzer Marpa Nachdem dieser ihn vielen schweren Belastungen ausgesetzt hatte, um sein früheres Leben der Zerstörung und der Untaten zu bereinigen, gab Marpa schließlich die Lehren, die er von Naropa erhalten hatte, an Milarepa weiter. Milarepa wurde später Marpas wichtigster und einflußreichster Schüler.

Die Kagyü-Tradition führt ihren Stammbaum auf Dordsche Tschang, den Adibuddha Vajradhara, zurück, der seine Lehren an den Meister Tilopa weitergab. Dieser wiederum führte dann Naropa in die Lehren ein. Wie bereits erwähnt, übertrug Naropa die Lehren an Marpa, und dieser gab sie wiederum an Milarepa weiter. Von Milarepa wird gesagt, er habe acht "geistige Söhne" und dreizehn "geringere Söhne". Gampopa (1079-1153) und Retschungpa (1084-1161) sind die beiden bekanntesten Schüler des großen tibetischen Asketen und Heiligen. Die verschiedenen Unterschulen der Kagyü-Tradition entsprangen der von Gampopa weitergegebenen Überlieferungstradition.