Grundlagen einer gesellschaftlichen Ethik

 von Geshe Thubten Ngawang

„Begehe nicht eine unheilsame Handlung, Führe alles Heilsame durch und Zähme deinen Geist. Das ist die Lehre des Buddha.“

Dieser Vers des Buddha stammt aus dem Vinaya, die Schriftensammlung über Disziplin, und er enthält alle Worte des Buddhas, die im Tibetischen hundert Bände umfaßt; hinzu kommen noch 200 Bände mit Kommentaren indischer Meister. Was bedeutet der Satz „Begehe keine unheilsame Handlung“? Damit ist die Anweisung verbunden, die Ursachen dafür zu schaffen, die Befreiung von allen Leiden zu erreichen. Dies ist eine Art der Interpretation, die vor allem für Menschen gedacht ist, die den Buddhismus intensiv praktizieren. Aber auch für andere Menschen kann diese Kernaussage des Buddha relevant sein, wenn wir sie etwas anders interpretieren, etwa in dem Wortlaut: „Begehe weniger unheilsame Handlungen, sieh dich vor!“ In dieser abgeschwächten Version könnte der Satz als Grundlage für eine gesellschaftliche Ethik dienen.

Auch für den zweiten Teil des Verses „Führe alles Heilsame durch...“ sind zwei Interpretationen möglich. Wer die Freiheit von allen Leiden oder die vollkommene Erleuchtung eines Buddhas erreichen möchte, muß alle heilsamen Handlungen durchführen, die auf dieses Ziel gerichtet sind. Wer weniger religiös motiviert ist und einfach der Gesellschaft nutzen möchte, kann den Satz auch so lesen: „Versuche durch Vertrauen und Mitgefühl, deinen Geist immer mehr zum Heilsamen zu entwickeln und zu disziplinieren. Dies ist die Ethik für die Gesellschaft“. So hätten wir die Kernaussage für unsere Gesellschaft neu formuliert: „Begehe weniger unheilsame Handlungen, versuche durch Vertrauen und Mitgefühl deinen Geist immer mehr zum Heilsamen zu entwickeln und zu disziplinieren. Dies ist die Ethik für die Gesellschaft.“

Wenn wir das Unheilsame verringern, so weit wir können, und auf der anderen Seite mit Vertrauen und Mitgefühl unseren Geist dem Heilsamen zuwenden und ihn disziplinieren, so hat es für die Gesellschaft erhebliche positive Wirkungen. Wer sich so übt, muß nicht im Sinne des Buddhismus Zuflucht genommen haben oder Buddhist sein. Menschen anderer Religionen üben diese Form der Ethik, und für Personen, die kein Bekenntnis haben, könnte der Vers ein Wegweiser ihres Handelns sein. Gerade für Politiker oder andere Menschen, die in irgendeiner Form die Gesellschaft weiterentwickeln möchten, kann er die Basis für eine gemeinsame Ethik bilden.

Im Sinne des Buddhismus würde die Anweisung „Begehe nicht eine unheilsame Handlung“ bedeuten, daß man zum Beispiel kein Lebewesen tötet und daß man darüber hinaus auch das Denken daran aufgibt. Allein schon die Motivation, töten zu wollen, wäre für jemanden, der diesen Vers strenger auslegt, bereits eine unheilsame Handlung, die er zu vermeiden hätte. Er arbeitet daran, daß er nicht einmal den Wunsch verspürt zu töten, geschweige denn, jemanden mit Waffen zu attackieren.

Bei den zehn unheilsamen Handlungen, die im Buddhismus erklärt werden, zielen die ersten sieben Handlungen auf den Körper und die Rede, d.h. man soll nicht töten, nicht stehlen, kein sexuelles Fehlverhalten durchführen, nicht lügen, keine grobe Rede sprechen, nicht Zwietracht säen und sinnlose Rede vermeiden. Die letzten drei sind unheilsame Handlungen des Geistes, die es zu vermeiden gilt: Habgier, Übelwollen und verkehrte Ansichten. Die ersten sieben Handlungen schädigen andere direkt. Wenn nur eine Absicht besteht, ohne sie in die Tat umzusetzen, handelt es sich nicht um eine direkte Schädigung.

Man unterläßt das Töten, weil der Körper oder das Leben der größte Schatz der Lebewesen ist. Das Nicht- Töten ist eine essentielle ethische Regel. Man enthält sich des Stehlens, um den Besitz anderer nicht anzutasten. Jeder Mensch braucht Güter, und es ist nicht korrekt, sie ihm wegzunehmen. Mit sexuellem Fehlverhalten schadet man den Beziehungen der Menschen, aus diesem Grund unterläßt man es. Als Menschen brauchen wir gute, stabile Bezie-hungen. Lügen verhindern, daß andere ihre Ziele erreichen. Hinter den Regeln steht die Überlegung, daß man Handlungen unterläßt, von denen man nicht möchte, daß andere sie in Bezug zu einem selbst begehen. Schließlich wollen wir alle Glück erleben und kein Leiden, und entsprechend verhalte ich mich.

Das eigentliche Argument dafür, eine gute Ethik einzuhalten, ist die so genannte weltliche rechte Ansicht, die mit dem Gesetz von Karma zu tun hat. Diese Ansicht hat auch gesellschaftlich ihre Gültigkeit. Sie enthält die Aussage, daß bestimmte Handlungen zu Glück führen und andere zu Leid. Sie wird im Buddhismus sehr wichtig genommen, obwohl sie sich nicht auf endgültige Ziele bezieht. Ist man ganz sicher und erkennt klaren Geistes, daß gute Handlungen zu Glück führen und schlechte zu Leid, dann ist es die weltliche rechte Ansicht. Den Religionen ist diese Ansicht geläufig, und es wäre gut, wenn sie sich auch in der Gesellschaft durchsetzen würde.

Wir sollten uns selbst fragen, ob diese Ansicht korrekt ist und unsere eigenen Erfahrungen hinzuziehen. Wir können schauen, wie sich bestimmte Handlungen in der Gegenwart auswirken, zum Beispiel das Töten oder Stehlen. Sie ziehen schwere negative Konsequenzen für den Täter selbst und für die Gesellschaft nach sich. Viele Handlungen, die in den Religionen als ethisch verwerflich angesehen werden, stehen im Widerspruch zu den herrschenden Gesetzen. Ärger mit dem Staat ist jedoch nur eine Ebene des Schadens. Wer denkt, daß es egal ist, ob er anderen schadet und ihr Leiden in Kauf nimmt, muß sich nicht wundern, wenn andere entsprechend reagieren und auch ihm schaden wollen. Die Gewalt, die wir anderen zufügen, wird auf uns selbst zurückfallen, und zwar nicht erst in zukünftigen Leben, sondern schon in dieser Existenz.

Der Buddha hat das Abhängige Entstehen gelehrt: Der Same einer Pflanze, die süße Früchte trägt, wird auch nur diese Früchte hervorbringen und keine bitteren oder sauren Früchte. Genau das gleiche gilt für unsere Handlungen. Negative Taten, die andere schädigen, werden negative Früchte in Form von Leiden für den Handelnden selbst zur Konsequenz haben. In den Religionen wird unterschiedlich erklärt, warum eine Person bestimmte Erfahrungen macht. Die einen sagen, es sei der Ratschluß Gottes, daß er uns ein bestimmtes Schicksal auferlegt. Andere sind überzeugt, daß das, was sie erleben, allein auf ihre vergangenen Handlungen (Karma) zurückgeht. Im Kern geht es um das gleiche: unheilsame Handlungen aufzugeben. Es ist offensichtlich, daß Menschen verschiedene Schicksale haben, und dies muß Gründe haben. In jeder Religion werden Antworten auf die Frage gesucht, warum wir so viel Leiden erleben. Aus buddhistischer Sicht sind es unsere eigenen Handlungen der Vergangenheit, die Schicksalsschläge bewirken. In den zahllosen vergangenen Leben haben wir Lebewesen getötet, ihnen geschadet, und aus diesem Grund müssen wir jetzt die Wirkungen unserer Taten erfahren, wobei natürlich äußere Faktoren ebenfalls eine Rolle spielen.

Oft, wenn das Schicksal uns nicht gar so hart zusetzt, können wir durch eigene Anstrengungen, durch positive Kräfte, die wir entwickeln, die negativen Ursachen bereinigen, so daß sie nicht ihre volle Wirkung entfalten. Aber manchmal sind wir, trotz aller Bemühungen nicht in der Lage, eine Leidenssituation abzuwenden. Es gibt Menschen, die chronisch arm sind. Sie können alles unternehmen, sie kommen nie zu Geld und Wohlstand und leben immer in schlechten sozialen Verhältnissen. Es muß eine sehr intensive Ursache oder Kraft im Hintergrund sein, die ein solches Schicksal bewirkt.

Aus buddhistischer Sicht sind Handlungen wie Stehlen in vergangenen Existenzen dafür verantwortlich, daß eine Person finanziell nicht auf einen grünen Zweig kommt. Andere Menschen haben ständig Probleme in ihren Beziehungen. Sie wünschen sich, mit jemandem zusammen zu sein und knüpfen vielleicht auch Beziehungen, aber es kommt immer wieder zu Problemen und Trennungen. Manchmal sind es geringfügige Anlässe, die ihre Ehe auseinander bringen, etwa daß der eine Partner in den Ferien in den Westen fahren möchte und der andere in den Osten. Während andere solche Differenzen mühelos überwinden, geht bei ihnen gleich alles in die Brüche.

Aus buddhistischer Sicht gibt es neben oberflächlichen Gründen noch eine tiefere Dimension, nämlich, daß die Person in vergangenen Leben sexuelles Fehlverhalten begangen und andere Beziehungen gestört hat. Auch gibt es das Phänomen, das einigen Menschen nie jemand glaubt, obwohl sie die Wahrheit sagen. Die Erklärung des Buddhismus ist, daß diese Menschen in vergangenen Leben gelogen haben, und nun erleben sie die karmischen Auswirkungen. Weiter gibt es Menschen, die besonders darunter zu leiden haben, daß andere ihre Freundschaften durcheinander bringen, indem sie Zwietracht unter den Beteiligten säen. Dies ist auch im Arbeitsleben möglich, daß durch das Einwirken anderer Mißver-ständnisse und Konflikte entstehen. Dies kann eine Wirkung von übler Nachrede oder Zwietracht säen sein, die man in früheren Leben durchgeführt hat. Manche Menschen müssen sich ständig Beschimpfungen anhören, grobe, üble Worte von anderen, obwohl sie sich selber einigermaßen korrekt verhalten und andere nicht beschimpfen. In diesem Fall ist es möglich, daß sie selbst in einer früheren Zeit anderen gegenüber grob geredet und sie mit Tiernamen belegt haben.

 Wieder andere Menschen haben damit zu kämpfen, daß sie sich ständig irgendwelches Gerede von anderen anhören müssen, das ihnen die Zeit stiehlt. Hierzulande hat kaum jemand viel Zeit, und doch müssen sich einige ständig etwas anhören, was sie gar nicht hören wollen. Sie schauen auf die Uhr, und sagen „Tut mir leid, ich habe keine Zeit mehr“, und wenig später kommt wieder jemand, der redet und redet. Dies kann darauf zurückzuführen sein, daß die Person selbst früher viel Unsinn geredet und unachtsam gesprochen hat.

In den Sutras sagte der Buddha, daß man die Dinge immer so erlebt, wie man sich anderen gegenüber verhalten hat. Wer die korrekte weltliche Ansicht in sich entwickeln möchte, sollte sich immer wieder klarmachen, daß es die sieben unheilsamen Handlungen sind, drei des Körpers und vier der Rede, die ihm Schwierigkeiten und Probleme eintragen. Wenn er andere schädigt, erleben diese Leiden, und darüber hinaus setzt er selbst die Ursachen, um in der Zukunft zu leiden. Mit dem Satz „Begehe weniger unheilsame Handlungen“ ist diese Ansicht verbunden. Wer sich so schult und von Tag zu Tag, Woche zu Woche, Monat zu Monat und Jahr zu Jahr eine gewisse Achtsamkeit und Aufmerksamkeit im Vermeiden von unheilsamen Handlungen aufbringt und eine echte Überzeugung in die inneren Gesetzmäßigkeiten des Ursprungs von Leiden erzeugt, wird allmählich einen weiteren Geistesfaktor in sich entwickeln: das Mitgefühl, der Wunsch, das Leiden anderer zu verringern. Mitgefühl verstärkt sich, indem man sich deutlich macht, daß man nicht nur selbst durch eigenes Verschulden leidet, sondern auch die vielen Lebewesen. Es wäre das Beste, wenn auch die anderen dies erkennen könnten, negative Verhaltensweisen aufgeben, damit sie die Wirkungen nicht erleben müssen. Diese Einstellung ist Mitgefühl auf der Grundlage der rechten weltlichen Ansicht.

In einem weiteren Schritt geht man noch über das Mitgefühl hinaus und entwickelt liebevolle Zuneigung. Liebe ist der Wunsch, daß andere Glück erleben mögen. Man wünscht also nicht nur, daß andere kein Leiden erleben müssen, sondern setzt sich aktiv dafür ein, daß sie mit Glück versehen sind. Wie macht man andere glücklich? Durch heilsame Handlungen des Körpers und der Rede, indem man beispielsweise sanft mit ihnen spricht, ihnen nützliche Ratschläge gibt oder in einer anderen positiven Weise auf sie einwirkt. Liebe besteht auch darin, anderen dankbar zu sein und ihnen zu helfen, wo es geht. Im Gegensatz zu anderen Wesen ist der Mensch zu vielen positiven Handlungen in der Lage. Auf Sanskrit heißt Mensch der „Fähige“, also der mit besonderer Kraft ausgestattet ist. Ein Hund, dem wir etwas geben, wird uns vielleicht als Zeichen der Dankbarkeit die Hand ablecken, aber zu mehr ist er nicht imstande. Der Mensch dagegen kann Wohltaten, die ihm andere erwiesen haben, ganz anders erwidern. Er hat viel mehr Möglichkeiten, positiv zu handeln und kann mit seinen Taten sogar in die Gesellschaft hineinwirken.

Liebe, also der Wunsch, daß andere Glück erleben und daß man direkt versucht, ihnen zu nutzen, sowie Mitgefühl, also der Wunsch, daß die Lebewesen von Leiden frei sind und daß man etwas unternimmt, damit sie weniger Leiden, hängen sehr eng miteinander zusammen und sind im Hinblick auf die Gesellschaft, also auch auf einer weltlichen Ebene von großer Bedeutung. Je mehr Liebe und Mitgefühl wir für andere aufbringen, umso mehr wird auch uns geholfen werden, tendenziell werden uns Leiden erspart bleiben. Heilsame und unheilsame Handlungen gibt es nur in Bezug auf Lebewesen. Nur Wesen, die mit einem Geist versehen sind, können Potentiale aus ihren Handlungen ansammeln, die sich dann entsprechend auswirken. Die Begriffe heilsam und unheilsam werden nicht in Bezug auf äußere Gegenstände wie Pflanzen oder Steine angewendet. Steine haben keinen Geist, sie unterliegen nicht dem Gesetz von Karma, sie können keine Ursachen ansammeln, die sich in zukünftigen Leben auswirken.

Kommen wir nun zum Aspekt des Vertrauens, wie es in dem Vers heißt: „Versuche durch Vertrauen und Mitgefühl deinen Geist immer mehr zum Heilsamen zu entwickeln.“

Wozu braucht man Vertrauen? Viele Probleme der Welt lassen sich ohne Religion, mit weltlichen Mitteln lösen. In Bezug auf andere Dinge im Leben, die wir erfahren müssen, zum Beispiel das Leiden von Geburt und Tod, versagen die weltlichen Mittel vollends. Wollen wir an diesen Schwierigkeiten nicht verzagen, müssen wir uns die Methoden der Religion zu Eigen machen. Dies macht die Religion sehr wertvoll, daß sie uns Methoden bietet, um tiefere Ebenen des Leidens zu überwinden. Dabei geht es um die echte Bedeutung von Religion, ich spreche hier nicht von Institutionen oder Traditionen, denn diese sind vielfach weltlich gefärbt. Ich meine Religion im eigentlichen Sinne als Methode, Leiden zu überwinden, die wir mit herkömmlichen Mitteln nicht bezwingen können. Die Essenz der Religion, die jenseits des Weltlichen zu finden ist, ist etwas Vertrauenswürdiges. Es ist das, was die großen Stifter der Religionen mit einer guten, altruistischen Motivation gelehrt haben, unabhängig davon, wie ihre Lehren später verfremdet wurden.

Daß in den Institutionen der religiösen Traditionen viel Negatives passiert ist, entspricht den historischen Tatsachen und soll hier nicht bestritten werden. Da waren gegenseitige Befehdung, Rachsucht, Gewalt zwischen den verschiedenen Traditionen oder innerhalb einer Tradition. Solche Auswüchse stehen natürlich nicht im Einklang mit den Anweisungen der Religionsstifter, sondern beruhen auf einer krassen Mißachtung ihrer Ratschläge zugunsten weltlicher Bestrebungen. Verantwortlich dafür waren die Menschen, die natürlich noch keine Heiligen waren, als sie in ein religiöses System eintraten. Wenn sie gerade damit beginnen, Religion zu praktizieren, findet in ihrem Geist ein Ringen zwischen positiven und negativen Faktoren statt. Sie bringen die negativen Aspekte ihres Geistes in das religiöse System mit hinein, und dies führt dann innerhalb der Institution zu Problemen. Angesichts solcher negativen Wirkungen kann es geschehen, daß Menschen ihr Vertrauen in die Religion verlieren. Sie gewinnen den Eindruck, Religionen seien nur dazu da, miteinander zu konkurrieren, sich gegenseitig zu befehden und Kriege vom Zaun zu brechen. Es kann sogar der Eindruck entstehen, daß die Probleme durch die Religionen noch größer würden. Wir sollten uns jedoch um eine differenziertere Sichtweise bemühen, indem wir einerseits die negativen Folgen schlechter religiöser Praxis betrachten und andererseits den guten Kern der Religionen sehen. Viele Lehren sind sehr tiefgründig und hilfreich, und der Fehler liegt nicht in der Religion, sondern in den Menschen, die nicht genügend praktizieren und ihre Fehler mit hinein nehmen. Es ist gut, wenn wir als Menschen der Religion grundsätzlich erst einmal positiv gegenüberstehen, besonders wenn wir Verantwortung in Gesellschaft und Politik haben. Dies gilt im Übrigen auch für Soldaten. Sie sollten tief in sich die Überzeugung haben, daß Religionen wertvoll sind, auch wenn sie sie nicht in jeder Situation ausüben können.

Menschen, die sich zu einer Religion bekennen, werden ihr Vertrauen in die Lehre und die Verkünder systematisch weiter ausbauen und vertiefen. Natürlich handelt es sich um ihre ganz private Sache. Es geht nicht darum, daß sie nach draußen stürzen und überall erzählen, wie toll ihre Religion und die Heiligen sind, womöglich noch mit dem Impetus, auch andere von ihrem Glauben zu überzeugen. Vertrauen in die Religion wird im eigenen Herzen entwickelt, es zielt nicht auf Äußeres. Würde man anderen gegenüber mit seinen Zufluchtsobjekten prahlen, würde man viele Leute gegen sich aufbringen und wiederum Konflikte schüren. So gibt es Vertrauen auf verschiedenen Ebenen, Vertrauen weltlicher oder religiöser Art. Die buddhistische Definition von Vertrauen ist, daß man etwas, das Vorzüge hat, auch als solches erkennt. Vertrauen ist ein heilsamer Geistesfaktor; es bezieht sich nicht auf Objekte, die kein Vertrauen verdienen, beispielsweise Alkohol. Wer sich zu einer Religion bekennt, entwickelt Vertrauen in den Stifter dieser Religion und zu denen, die durch die Anwendung der Religion Verwirklichungen erlangt haben. Auch Vertrauen in den eigenen Lehrer, der einen qualifiziert in die Praxis einführt, ist sehr heilsam. Vertrauen ist aber auch gegenüber Tugenden angebracht, zum Beispiel Mitgefühl und liebevoller Zuneigung. Indem man sich die Qualitäten dieser Tugenden vor Augen führt, lernt man sie zu schätzen und strebt sie auch selbst an.

Wie nun diszipliniert man den Geist hin zum Heilsamen? Entscheidend ist der Faktor Achtsamkeit. Man ist sich jederzeit bewußt, in welchem Zustand der Geist ist und welche Handlungen man durchführt. Man bemüht sich, das Unheilsame abzuwenden und das Heilsame zu entwickeln. Über die Monate und Jahre hinweg kann man den Geist durch die Kraft der Achtsamkeit immer mehr disziplinieren. Ein achtsamer Mensch sendet natürlich auch Signale an seine Umgebung aus. Vielleicht fühlen andere sich dadurch ermuntert, ebenfalls achtsamer zu werden, und so werden es immer mehr, die einen heilsamen Weg einschlagen. Der erste Schritt ist, daß Menschen sich als einzelne, privat angemessen verhalten, schließlich können sie auch in die Gesellschaft hineinwirken.

Ich bin von der Wirksamkeit der Ethik und Achtsamkeit sehr überzeugt. Gerade in einer Zeit, in der die ethischen Grundsätze immer mehr angezweifelt werden, ist es umso wichtiger, ein Gegengewicht zu setzen und mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich lebe nun schon 20 Jahre in Deutschland, und mein Eindruck ist, daß die Gewaltbereitschaft gewachsen ist. Wenn man früher im Fernsehen von Demonstrationen berichtete, sah man die Leute Schilder hochhalten und ihren Unmut friedlich kundtun. Heute wird mit Steinen geworfen, manchmal gibt es richtige Straßenschlachten. Grundlegende ethische Regeln, das Nicht-Verletzen anderer scheinen immer weniger Beachtung zu finden; die Gewalt eskaliert.

Angesichts dieser Entwicklungen halte ich es für besonders wichtig, daß wir uns auf unsere gemeinsamen ethischen Grundlagen besinnen, die wir als Menschen haben.

Aus dem Tibetischen von Oliver Petersen