Atisha und die Verbreitung des Dharma in Tibet

von Geshe Thubten Ngawang nach einem Text von Dsche Tsongkapa.
Aus dem Tibetischen übersetzt von Jürgen Manshardt und Christof Spitz

Der Meister Atisha (982-1054) war Mönch und lebte in Indien im Kloster Vikramalaila. Dsche Tsongkapa schreibt über sein Wirken: "Atishas Werk in Indien begann damit, daß er im Palast der Großen Erleuchtung im glorreichen Bodhgaya drei Mal die hinderlichen Vertreter von falschen Philosophien mit dem Dharma besiegte und so die Lehre des vollkommen Erleuchteten bewahrte. Auch indem er die Lehre des eigenen Systems, des unteren wie des oberen, von den hinderlichen Verunreinigungen befreite, die durch Zweifel, Unkenntnis und verkehrte Auffassungen entstanden waren, wirkte er zur Verbreitung der Lehre. Er wurde sogar von allen Schulen in unparteiischer Weise wie ein Kronjuwel betrachtet."

Für Atisha war es nicht einfach, von seinem Stammkloster wegzugehen; denn die großen Gelehrten wie er wurden in den indischen Klöstern dringend benötigt. Deshalb sah man Einladungen, die von den Tibetern an indische Meister ausgesprochen wurden, nicht sehr gern. In Vikramalashila hielten sich zu jener Zeit einige tibetische Übersetzer auf, die die Qualitäten Atishas sahen und nach Tibet berichteten. An der tibetischen Grenze zu Ladakh lag das Land Garlok, wo der tibetische König Lha Lama Yesche-Ö lebte, der einen Neffen mit dem Namen Lha Lama Dschangdschub-Ö hatte. Beide bemühten sich nach den eingetroffenen Berichten sehr intensiv, Atisha nach Tibet einzuladen. Damals war jedoch die politische Situation sehr instabil. Lha Lama Yesche-Ö wurde schließlich gefangengenommen und sollte von seinem Neffen mit Gold freigekauft werden. Weil Lha Lama Yesche-Ö zu dieser Zeit aber bereits sehr alt und im Gefängnis auch krank geworden war, wies er seinen Neffen an, das Gold, das dieser für seine Freilassung gesammelt hatte, lieber dafür zu benutzen, Atisha nach Tibet einzuladen. Nachdem er diesen letzten Willen an Dschangdschub- Ö weitergegeben hatte, starb Lha Lama Yesche-Ö im Gefängnis.

Dschangdschub-Ö sandte den Übersetzer Tsöndrü Senge nach Indien, um die Einladung an Atisha zu überbringen. Das Kloster erlaubte, daß Atisha für die begrenzte Dauer von drei Jahren nach Tibet ging. Der Übersetzer mußte dem Kloster versprechen, daß er Atisha nach drei Jahren wieder zurückbringen werde. Erst dann konnten die beiden nach Tibet abreisen. Als drei Jahre vergangen waren, wollte Tsöndrü Senge seinem Versprechen nachkommen, doch in Nordindien herrschten zur Zeit kriegerische Auseinandersetzungen, so daß der Weg in Atishas Kloster versperrt war. Tsöndrü Senge schickte eine entsprechende Nachricht

an das Kloster und bat um Entschuldigung. Zusammen mit diesem Brief wurde die erste Lamrim-Schrift, Die Lampe auf dem Weg zur Erleuchtung, die Atisha zwischenzeitlich in Tibet verfaßt hatte, an das Kloster geschickt. Nachdem die Gelehrten des Klosters den Text erhalten hatten, waren sie sehr beeindruckt und sagten, der Nutzen, den Atisha in Tibet bewirke, sei noch größer als der Nutzen, den er gegenwärtig bewirken könnte, wenn er wieder in Indien wäre. In Indien gebe es viele andere Gelehrte, weshalb die Anweisungen von Atisha keine so große Wirkungskraft hätten wie in Tibet. Man bedauerte es daher nicht allzu sehr, daß Atisha momentan nicht zurückkehren konnte. Darüber hinaus hatten die Tibeter großes Vertrauen in Atisha und baten sehr intensiv darum, daß dieser noch bei ihnen bleiben könnte. So gaben die Gelehrten des Klosters schließlich auf den Brief die Antwort, daß Atisha sich keine Sorgen machen müsse und in Tibet bleiben könne. Atisha hielt sich dann bis zu seinem Tod in Tibet insgesamt 13 Jahre lang auf.

Die erste Verbreitung des Buddhismus in Tibet fand im siebten Jahrhundert unter Songtsen Gampo (gest. 649) und den folgenden großen religiösen Königen statt. Anschließend verfiel die Lehre wieder, vor allem unter dem König Langdarma (gest. 838) Anfang des neunten Jahrhunderts. Unter seiner Regierung wurden die Buddhisten heftig verfolgt, und die Lehre ging beinahe vollständig zugrunde. Danach begann eine zweite Ausbreitung der Lehre, doch gab es zu dieser Zeit viele Mißverständnisse, insbesondere hinsichtlich der Verbindung der Lehren des Sutra-Systems mit den Lehren des Tantra. Einige der damaligen Vertreter waren zum Beispiel der Meinung, die Sutra-Lehren seien für einen Tantra-Praktizierenden nicht von Bedeutung. Aufgrund dieser Situation und der Degeneration der Lehre in Tibet bat Dschangdschub-Ö den Meister Atisha um Lehren, die diese Situation klären und die bestehenden Mißverständnisse klären könnten. Insbesondere ersuchte er ihn, statt einer besonders beeindruckenden Lehre mit klangvollem Namen eine Lehre zu geben, die mit dem Gesetz von Karma in Einklang stünde, das heißt ganz auf den Grundsätzen der Buddha-Lehre basierte.

Als Antwort auf diese Bitte verfaßte Atisha den Text Die Lampe auf dem Pfad zur Erleuchtung, wo er im anfänglichen Vers der Verehrung und des Versprechens, die Schrift zu verfassen, zum Ausdruck bringt, daß er diese Schrift aufgrund der Bitten des "guten Schülers Dschangdschub-Ö" verfaßt hat. Atisha war besonders erfreut über die Bitte Dschangdschub-Ös, eine Lehre zu geben, die im Einklang mit dem Gesetz von Karma stünde und nicht darauf ausgerichtet sei, besonders beeindruckend zu sein. So verfaßte Atisha die erste Lamrim-Schrift in Tibet, in der er auf wenigen Seiten den gesamten Weg zur Erleuchtung in sehr gut verständlicher und leicht anzuwendender Weise beschrieb. Er legte dar, wie man die vielfältigen Lehren und verschiedenen Systeme des Buddha in seine Übung integrieren kann und wie ein Mensch sich innerhalb eines Lebens mit dem gesamten Pfad aus den Lehren des Sutra- und Tantra-Systems vertraut machen kann. Die Übungen werden dementsprechend in Übungen für die drei Gruppen von Praktizierenden angeordnet: für die Übenden mit anfänglichen, mittleren und höchsten Fähigkeiten. Dsche Tsongkapa erklärt in der Biographie zu Atisha in der Großen Darlegung der Stufen auf dem Pfad:

"Atisha blieb drei Jahre in Ngari. Auch in Nyetang [nahe Lhasa, wo sich heute noch ein kleines Kloster und ein Stupa mit seinen sterblichen Überresten befindet,] blieb er neun Jahre lang. Darüber hinaus lebte er etwa fünf weitere Jahre an verschiedenen Plätzen in Zentraltibet (Ü-tsang), wo er den vom Glück Begünstigten alle essentiellen Anweisungen der Sutra- und Tantra- Schriften lehrte. Dadurch bewirkte er, daß die buddhistische Tradition dort, wo sie verloren gegangen war, erneut begründet wurde; daß sie gestärkt wurde, wo sie nur schwach war; und daß sie dort, wo sie mit Verunrei-nigungen aufgrund von falschen Ansichten behaftet war, wieder vollständig gereinigt wurde. In dieser Weise bewirkte Atisha, daß die juwelengleiche Lehre von Verschmutzungen befreit wurde.

Im allgemeinen hat die Lehre in Tibet, dem Land der Schneeberge, zwei Phasen der Degeneration zu überwinden gehabt. Die erste trat zur Zeit der frühen Ausbreitung der Lehre auf: Die Tradition, welche von den glorreichen Meistern Shantarakshita (725- 788) und Padmasambhava begründet worden war, hatte der chinesische Abt Ha-shang verdunkelt, da er die essentiellen Punkte beim Verständnis der Leerheit (Shunyata) nicht begriffen hatte und so zu falschen Methoden gelangt war. So lehrte er das Unterdrücken aller geistigen Tätigkeit. Doch der große Meister Kamalashila (740-795) widerlegte diese Lehre vollständig und machte so die eigentliche Intention des Siegers Buddha Shakyamuni deutlich. Dadurch erwies er uns einen unschätzbaren Dienst.

Die zweite Degeneration trat zur Zeit der späteren Ausbreitung der Lehre auf: Einige selbsterkorene Pandits und Yogis fügten der Wurzel der Lehre, der Ethik des Reinen Lebenswandels, aufgrund ihres Mißverständnisses der Bedeutung der Tantra-Systeme einen großen Schaden zu. Atisha, dieses erhabene Wesen, widerlegte sie jedoch vollständig und verbreitete die echte Lehre, indem er die verkehrten Auffassungen zum Schwinden brachte. So hat er allen Bewohnern des Schneelandes seine Güte angedeihen lassen. Um eine Schrift zu verfassen, die die Intention des Überwinders Buddha Shakyamuni verdeutlicht, bedarf es der folgenden drei Ursachen für Vortrefflichkeit:
1. Meisterschaft in den fünf Wissensgebieten;
2. Besitz von mündlichen Anweisungen, die vom Buddha ausgehend in ununterbrochener Folge von den edlen Meistern überliefert wurden und die vollständig die Anweisungen enthalten, wie die Inhalte der fünf Wissensgebiete zu verinnerlichen sind;
3. direkte Vision der Meditationsgottheit und der Erlaubnis von ihr, die Schrift verfassen zu dürfen.
Obwohl schon jede einzelne dieser Ursachen ausreichend ist, um eine Schrift verfassen zu können, erlangt man dabei erst Vortrefflichkeit, wenn alle drei vollständig vorhanden sind. Und Atisha, dieser große Meister, war im Besitz aller drei Ursachen.

In den Achtzig Lobpreisungen [des Übersetzer Nagtso Lotsawa] wird etwas darüber ausgesagt, wie Atisha sich in der Obhut seiner Meditationsgottheiten wußte: "Von dem glorreichen Hevajra und dem König des Aufstellens von tantrischen Verpflichtungen, von dem heldenhaften Beherrscher der Welt Avalokiteshvara und der edlen Befreierin Tara sowie anderen Meditationsgottheiten hattest du direkte Visionen und erhieltst Erlaubnis. Selbst im Traum konntest du die tiefgründige und umfassende Lehre stets von ihnen in unmittelbarer Weise vernehmen." Atisha hielt mehrere direkte Überlieferungs-linien: So die Übertragungslinie des allgemeinen Fahrzeuges [gemeint ist das Hinayana] und des Großen Fahrzeuges, wobei sich letzteres in das Fahrzeug der Vollkommenheiten und das des Geheimen Mantra unterteilt. Innerhalb des Vollkommenheitsfahrzeuges wiederum hielt er beide Übertragungslinien, nämlich die von Maitreya überlieferte Linie der Handlungen der Bodhisattvas und die von Manjushri überlieferte Linie der Ansicht der Leerheit; insgesamt also drei Überlieferungslinien. Auch innerhalb des Geheimen Mantra war er Halter von fünf Überlieferungssystemen, und darüber hinaus hielt er die Linie von vielfältigen Lehrmeinungen, Segensübertragungen und Anweisungen.

Über die Meister, von denen er direkt Belehrungen hörte, wird in den Lobpreisungen gesagt: 'Die Meister, auf die du dich stets stütztest, waren Shantipa und Serlingpa, Bhadrabodhisheri und viele, die hohe Verwirklichungen erlangt hatten. Insbesondere warst du sowohl im Besitz der Anweisungen über die tiefgründige Weisheit der Leerheit, die nach dem Buddha von Manjushri und Nagarjuna ausgehend von einem Meister auf den anderen übertragen worden waren, als auch der Anweisungen über die weit reichenden Handlungen der Bodhisattvas, die ausgehend von Maitreya und Asanga überliefert worden waren.' Atisha studierte nicht nur unter zwölf berühmten Meistern, die hohe Verwirklichungen erlangt hatten, sondern auch unter vielen anderen. Daß Atisha Meisterschaft in den fünf Wissensgebieten erlangte, wurde bereits dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er als großer Meister befähigt war, die eigentliche Intention des Siegers Buddha Shakyamuni einwandfrei darzulegen. Als dieser große Meister in Indien, Kashmir, Nepal und Tibet lehrte, hatte er unfaßbar viele Schüler. Seine vier Hauptschüler in Indien waren der große Pandita Pilopa, der in seinem Wissen dem ehrwürdigen Atisha ebenbürtig gewesen sein soll, Dharmakaramati, Madhyasiha und Bhugarbha. Einige nennen noch Mitragupta als fünften Hauptschüler.

Seine bedeutendsten Schüler aus Ngari waren der große Übersetzer Rintschen Sangpo, Nagtso Lotsawa und der König Lha Lama DschangdschubÖ. Aus der Tsang-Region waren es Gargewa und Gökukpa Lha; aus Lhodrak Tschakpa Tritschok und Gewa Kyong; die herausragenden Schüler aus Kham waren Näldschor Tschenpo, Gönpawa, Scherab Dordsche und Tschagdar Tönpa. Aus Zentraltibet kamen die drei: Khutön, Ngog Lotsawa und Drom Tönpa. Unter all diesen Schülern war es jedoch der von Tara prophezeite Drom Tönpa Gyälwa Dschungnä [Dromtönpa (1004-1065) gilt als Hauptbegründer der von Atisha inspirierten Kadam-Tradition], der als großer Linienhalter die Heilsaktivität von Meister Atisha ausweitete.