Mystik - mit dem Geist sehen

von Geshe Thubten Ngawang

Geshe Thubten Ngawang hielt den folgenden Vortrag beim Interreligiösen Dialog in Hamburg (1999) zum Thema "Mystik in den Religionen".

Grundsätzlich können wir am Ende des 20. Jahrhunderts feststellen, dass die Welt immer enger zusammenrückt. Das zeigt sich auf kulturellem Gebiet, im Politischen, im Religiösen und im Wirtschaftlichen. Es ist offensichtlich, dass dieser Prozess, unterstützt von einer rasanten Kommunikations-Technologie, immer mehr an Dynamik gewinnt.

Betrachten wir diese Einigung der Welt, so geht es dabei hauptsächlich um Bedürfnisse des Körpers. Wenn wir uns aber fragen, wie wir dauerhaftes Glück des Geistes erreichen können, einen Zustand der Befreiung, dann werden wir es wohl nur in diesen religiösen Traditionen finden.

Was offenbar alle Religionen anstreben ist, innere Kraft durch die Schulung des Geistes hervorzubringen. Ein solches Geistestraining hilft, in leidhaften Zuständen nicht in Depressionen zu versinken und in glücklichen Situationen nicht euphorisch zu werden, sondern stets eine gewisse Gelassenheit des Geistes aufrechtzuerhalten.

Im Christentum wird die Tugend der Geduld besonders in einem Gleichnis erwähnt. Wird man auf eine Wange geschlagen, sollte man auch die andere hinhalten.

Auch im Buddhismus wird die Tugend der Geduld gepriesen. Auf der Grundlage von Geduld kann man weiter aufbauen und wichtige Eigenschaften wie Liebe und Mitgefühl entwickeln, also den umfassenden Wunsch, dass alle anderen von Leiden frei sein mögen und dass sie Glück erleben. Mit zunehmender Schulung wird das Mitgefühl umfassender, indem wir denken, dass wir allen Wesen das dauerhafte Glück der Befreiung zukommen lassen möchten.

Liebe und Mitgefühl können um so stärker werden, je mehr wir die Selbstsucht verringern. Aus buddhistischer Sicht bezieht sich die Selbstsucht auf eine falsche Sicht auf das Selbst oder das, was wir 'Ich' nennen. Dieses existiert nicht so, wie wir es wahrnehmen. Es gibt ein Ich, das auf der Grundlage von Körper und Geist benannt werden kann, aber es gibt keines, das absolut, aus sich heraus existiert.

Selbstsucht sollte man nicht mit seinen legitimen Wünschen verwechseln, wie z.B. Nahrung zu sich zu nehmen, Kleidung zu tragen oder Glück zu erlangen. Die Selbstsucht ist ein subtiler, nicht leicht zu identifizierender Faktor, und sie ist im Geist gewöhnlicher Wesen vorhanden. Wenn wir z.B. mit einer anderen Person die Straße entlang gehen, haben wir unwillkürlich das Gefühl, von beiden der Wichtigere zu sein.

In Indien und Tibet gab es große Meister, die sich voller Hingabe bemühten, die Selbstsucht zu verringern. Einer ist der bekannte indische Meister Naropa. Er unternahm viele Bemühungen, einen fähigen geistigen Lehrer zu finden und unter seiner geistigen Führung Tugenden zu verwirklichen.

Es gibt einen von uns angenommenen, also einen zu interpretierenden geistigen Lehrer, und einen endgültigen. Der endgültige Lehrer oder Lama ist die Erfahrung unserer eigenen geistigen Entwicklung. Diese wird sich einstellen, wenn wir den Pfad von Mitgefühl und Weisheit sehr weit entwickelt haben, wenn wir in uns selbst mehr und mehr Einsicht in die Bestehensweise unserer eigenen Person gewinnen. Dies nennen wir dann eine "mystische" Erfahrung, obwohl ich nicht sicher bin, ob wir dieses Wort eins zu eins in die tibetische Sprache übersetzen können. Die Erfahrung des Nicht-Selbst ist aus buddhistischer Sicht der endgültige geistige Lehrer in uns selbst; sie ist eine untrügliche Instanz.

Darüber hinaus gibt es den zu interpretierenden geistigen Lehrer, der uns zu der Erfahrung des inneren Lehrers führt. Es gab die großen geistigen Lehrer der Menschheit, wie z.B. im Christentum Jesus, im Buddhismus berühmte Meister oder im Islam die Propheten. Solche hoch entwickelten Wesen sind die zu interpretierenden geistigen Lehrer; sie zeigen uns den Weg zum inneren Lehrer.

Den Hammer der Realität einsetzen
Naropa suchte einen geistigen Lehrer. Auf dem Weg zu seinem zukünftigen Lehrer Tilopa traf er zwei Menschen, von denen der eine dem anderen immer wieder mit einem Hammer auf den Kopf schlug. Naropa fragte: "Könnt ihr mir bitte helfen, Tilopa zu finden, der mein geistiger Lehrer werden soll?" Daraufhin antwortete einer der beiden: "Hilfst du mir, dem anderen mit dem Hammer auf den Kopf zu schlagen, dann sage ich dir, wo du Tilopa finden kannst." Naropa erwiderte: "Das geht nicht, ich kann dir nicht helfen, dem anderen mit dem Hammer auf den Kopf zu schlagen, nur um eine Antwort von dir zu bekommen." Plötzlich vernahm Naropa eine leise Stimme aus dem Himmel, die ihm erklärte, was es mit den beiden auf sich hatte:

Die Selbstsucht und das Greifen nach einem Selbst, so sagte die Stimme, soll man mit dem Hammer des Erkennens der endgültigen Realität und des Mitgefühls zerstören. Gelingt dies nicht, werden wir unseren inneren Geistigen Lehrer niemals finden. Dies gilt auch für das Erfassen der Leerheit, der eigentlichen Natur aller Phänomene. So kann man die Weisheit der Leerheit nutzen, die Selbstsucht zu überwinden, um schließlich den endgültigen geistigen Lehrer in sich zu finden.

Im Buddhismus geht es darum, eine unmittelbare, eine mystische Erfahrung der endgültigen Realität zu haben, die in der Mahayana-Philosophie als Leerheit bezeichnet wird; die Leerheit wird mit dem Abhängigen Entstehen begründet. Es gibt nichts, was für sich allein besteht; alles ist nur vor dem Hintergrund anderer Phänomene benennbar und zu verstehen. Somit existieren die Phänomene; Existenz wird nicht verneint.

Die moderne Naturwissenschaft des Westens kennt Parallelen zur buddhistischen Philosophie des Abhängigen Entstehens. Die Ausgangspunkte der Naturwissenschaft sind andere als die der geistigen Lehren des Buddhismus. Sie scheinen zunächst nichts miteinander zu tun zu haben. Auf der einen Seite gibt es große Gelehrte auf dem Gebiet des Materiellen und auf der anderen Seite große Meister des Geistigen oder Spirituellen. Austausch und Begegnung dieser Ebenen werden immer seltener. Ob nun in der Naturwissenschaft, der Psychologie oder in der Religion: Die Erfahrungen hier wie dort lassen die Gelehrten erkennen, dass alle Dinge in gegenseitiger Abhängigkeit existieren und keinerlei Selbst-Existenz allein aus sich heraus haben.

Wenn wir im Buddhismus untersuchen, wie das Ich existiert ("Ich will das, ich will das nicht"), müssen wir sehr genau untersuchen, was daran existiert und was nicht. Die naive Auffassungsweise eines Ich ist falsch. Untersuchen wir unsere Person genauer, sehen wir natürlich, dass wir körperliche und geistige Faktoren haben. Beide Seiten sind vorhanden. Der Körper existiert nur auf Grund vieler Teile und eines Kontinuums, welches sich in jedem Moment verändert. Unser Geist umfasst viele verschiedene Aspekte, die ihrerseits in Form eines Kontinuums auf eine unbeständige Weise bestehen. Wenn die beiden Aspekte zusammenkommen und somit existieren, kann man auf dieser Grundlage von einem Ich sprechen. Uns erscheint das Ich allerdings isoliert, aus sich bestehend, fast unabhängig von allen bedingenden Faktoren.

Nicht-Selbst - die Täuschungen entlarven
Die Madyamaka-Philosophie, die in Tibet als die höchste Philosophie gilt, sagt, dass das Ich eine bloße Benennung auf der Grundlage von Körper und Geist ist, die in Abhängigkeit existieren. Unglücklicherweise haben sämtliche Lebewesen, die sich nicht philosophisch in der Erkenntnis der endgültigen Existenzweise des Ich geschult haben, eine angeborene Unwissenheit. Sie sehen das Ich auf eine unabhängige, selbstexistente Weise, so wie sie gar nicht zu finden ist, wenn man das Ich genau untersucht.

Darüber hinaus gibt es natürlich auch falsche Auffassungen in Bezug auf die anderen Phänomene außerhalb unserer Person, wie z.B. das, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten. Auch diese begreifen wir, als hätten sie eine eigene Existenz. Wenn wir z.B. ein Mikrofon nehmen, so werden wir darin nichts finden, was Mikrofon ist. Das Mikrofon ist eine bloße Zusammensetzung von vielen Teilen, auf deren Grundlage man dann "Mikrofon" sagen kann. Es gibt keine Möglichkeit, das Mikrofon zu sezieren und irgendwo etwas zu finden, was selbst Mikrofon ist. Das Mikrofon existiert nur in Beziehung zur Umwelt, auf der Grundlage seiner vielen Einzelteile in einer unbeständigen Weise. Auf dieser Grundlage kann man die Benennung "Mikrofon" korrekt anwenden, und dadurch gibt es dann auch ein Mikrofon. Aber wir werden im Mikrofon kein Mikrofon finden können.

Die Buddhistische Madyamaka-Philosophie sagt, dass sämtliche Phänomene in dieser Weise leer sind von einer bloß projizierten Existenzweise, von einer auffindbaren, unabhängigen Selbstexistenz. Das betrifft alle Phänomene; ihre endgültige Bestehensweise ist die Leerheit.

Die Stimme sagt zu Naropa, dass man mit dem Hammer der Erfahrung der Leerheit das Greifen nach dem Selbst und die Selbstsucht zerstören soll. Wichtig ist, dass wir eine mehr philosophische Weisheit entwickeln und auch Bemühungen auf der Seite der Methode unternehmen. Damit ist hauptsächlich das Mitgefühl gemeint. Weisheit und Methode sind auf dem spirituellen Pfad notwendig, um den endgültigen Lehrer in sich zu finden. Wenn beide richtig zusammenkommen, entwickelt sich daraus der endgültige geistige Lehrer. Er ist eine mystische Erkenntnis in uns selbst.

Natürlich gibt es in den verschiedenen Religionen unterschiedliche Begrifflichkeiten für den endgültigen Lehrer. Wir sprechen im Mahayana z.B. vom Dharmakaya, dem endgültigen Wesen des Buddha. Diesen können wir zurzeit nicht direkt erfahren, und deshalb brauchen wir einen Lehrer, den zu interpretierenden geistigen Lehrer. Er ist es, den wir als Menschen treffen können und der uns zu diesem Zustand führt.

Aus buddhistischer Sicht ist der eigentliche Pfad, der Mitgefühl und Weisheit miteinander verbindet, auch eine Art Reinigungsprozess. Die Befleckungen des Geistes, die Täuschungen, lösen sich langsam auf, und es entstehen so genannte reine Wahrnehmungen. Es liegt in der Natur des Geistes begründet, dass Täuschungen in dem Maße abnehmen, wie wir in der Lage sind, uns neuen, korrekten Sichtweisen und Wahrnehmungen zu öffnen. Dadurch findet in uns ein geistiger Reinigungsprozess statt.

Reine, geläuterte Wahrnehmungen sind sowohl mit dem Sinnesbewusstsein als auch mit dem geistigen Bewusstsein möglich. Wenn wir von Mystik sprechen, so denke ich, dass sie etwas mit den reinen geistigen Wahrnehmungen zu tun hat. Es geht nicht um Erfahrungen mit den fünf Sinnen über das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten, sondern um das geistige Bewusstsein. Dieses sechste Bewusstsein ist das, womit wir normalerweise denken, aber es hat noch andere, tiefere Ebenen. Mit dem geistigen Bewusstsein können wir tiefe meditative Erfahrungen machen, mystische Erfahrungen.

Wie ich erfahren habe, impliziert das Wort Mystik im Griechischen, dass man die Augen schließt. So ist es das Wesen der Mystik, dass man mit dem geistigen Bewusstsein zu sehen lernt. Nur dieses kann eine reine Erscheinung hervorbringen. Mit dem geistigen Bewusstsein können wir die Natur der Phänomene und der Person korrekt erfassen. Dadurch werden die Hindernisse und geistigen Schleier beseitigt. Das ist es, was wir im Buddhismus Mystik nennen. Die Basis dafür bildet die Einheit von analytischer und konzentrativer Meditation. Beide müssen zusammenkommen, um solch tiefe und befreiende Erfahrungen der eigentlichen Natur der Phänomene zu machen.

Aus dem Tibetischen übersetzt von Oliver Petersen.

Mystik, von griech. Ta mystika, 'die Augen schließen', um alle sinnliche Wahrnehmung auszuschalten und statt ihrer zur inneren, göttlichen Erleuchtung zu gelangen. [...] Mystik im engeren Sinne ist die durch kultische Handlungen und ihnen entsprechende seelische Erlebnisse erstrebte und erreichte Berührung mit dem Göttlichen."

(Aus: Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1955)