Die Nyingma-Tradition
Die Nyingma-Tradition (rNying ma) ist die älteste Überlieferungslinie innerhalb des tibetischen Buddhismus. Sie ist die einzige, deren Anfänge bis in die Zeit vor der zweiten Verbreitung des Buddhismus zurückverfolgt werden können. Die zentrale Figur der Nyingma-Tradition ist der Meister Padmasambhava. Es wird erzählt, daß Padmasambhava auf wundersame Weise in der nordindischen Provinz Uddiyana Geburt angenommen hatte und schon in jungen Jahren rastlos durch das ganze buddhistische Indien reiste, um seinen spirituellen Durst zu stillen. Nachdem er unter verschiedenen indischen Meistern studiert hatte, gewann er allmählich große Berühmtheit.
Durch den Ruhm dieses Tantrischen Meisters angeregt, lud Trisong Detsen, der damalige Herrscher in Tibet, ihn in sein Land ein, um Hindernisse für die Verbreitung des Buddhismus zu beseitigen. Während seiner Wanderschaft durch Tibet und angrenzende Länder verbarg Padmasambhava zahlreiche geheime Schriften und Lehren an vielen verschiedenen Orten. Diese geheimen Schätze, auch "Termas" genannt, wurden später von geeigneten Personen zu geeigneten Zeiten entdeckt. Der bedeutsamste unter den Entdeckern war Orgyen Lingpa (gestorben 1379), dem nachgesagt wird, er habe die Biographie von Padmasambhava aufgefunden. In dieser Biographie heißt es, daß der große Padmasambhava in dem gesamten Gebiet zwischen China und der Region um den Berg Kailash in Tibet 108 kostbare Schriften versteckt hat, dazu 125 bedeutsame tantrische Bildnisse und die "fünf sehr seltenen Essenzen", die die geheimsten Lehren beinhalten.
Die Entdeckung dieser Termas durch verschiedene große Persönlichkeiten mit hohen geistigen Fähigkeiten belebte die spirituelle Tradition und sorgte gleichzeitig für eine ununterbrochene Überlieferungslinie, von den Zeiten der alten Herrscher bis hin zu den später abgefaßten Lehren der Nyingma-Tradition.
Die Nyingma-Schatz-Lehren, welche man seit dem 12. Jahrhundert fand, wurden später zu einer Sammlung von einundsechzig Bänden zusammengestellt. Eine bedeutsame zusätzliche Tradition ging von Vimalamitra, dem indischen Weggefährten von Padmasambhava, aus. Dieser indische Gelehrte gab die grundlegenden Lehren der "Großen Vollendung" (Tibetisch "Dzogtschen") der Nyingma-Tradition an den tibetischen Gelehrten Nyang Tingzin weiter, der den Text versteckte.
Später wurde dieser Text, genannt Nying Tik oder Tropfen der innersten Essenz, wiederentdeckt. Eine Zeit nach seiner Entdeckung wurde er von Longtschenpa, einem bedeutenden Nyingma-Lama des 14. Jahrhunderts, in aller Klarheit erläutert. Dieser Kommentar genießt allgemeine Anerkennung in der gesamten Übertragungslinie.
Die Nyingmapas unterteilen die Lehren des Buddhas in neun Kategorien oder "Fahrzeuge". Die ersten drei werden dem "Ausstrahlungskörper" zugeordnet und sind vom Buddha verkündet. Es handelt sich hierbei um:
das Fahrzeug der Sravakas, die den Hinayana-Lehren des Buddha folgen, um dadurch den Zustand eines Arhat - einem, der aus allen Leiden befreit ist - zu erreichen;
das Fahrzeug der Pratyeka-Buddhas, die ebenfalls die Freiheit aus dem leidhaften Daseinskreislauf anstreben und Gehalt der Lehren zwar für sich erkennen, aber nicht in Lage sind, die Welt darin zu unterweisen;
das Fahrzeug der Bodhisattvas, die den Mahayana-Lehren der Vollkommenheit der Weisheit nachfolgen.
Die nächsten drei Fahrzeuge werden dem "Körper des vollkommenen Erfreuens" zugeordnet. Hierbei handelt es um die drei Fahrzeuge des Handlungs-, des Ausübungs- und des Yoga-Tantra, welche die Lehren der unteren Tantras umfassen. Dann folgen die höchsten drei Fahrzeuge, die dem "Wahrheitskörper" zugeordnet werden. Diese werden als die Lehren des Höchsten Yoga-Tantras angesehen und bestehen aus dem Maha-, dem Anu- und Ati-Yoga. Letzteres Fahrzeug ist synonym mit dem Übungssystem der Großen Vollendung".
Neben den Klöstern Dorje Trak und Mindroling, beide in Zentraltibet, befinden sich die wichtigsten Klöster dieser Tradition wie Kathog, Palyül, Dzogtschen und Zhedun in Kham in Osttibet.