Das buddhistische Tantra Tibets

Die Praxis des Tantra findet sich nicht nur im Buddhismus, sondern auch im Hinduismus. In den einzelnen Traditionen werden unterschiedliche Praktiken erklärt. Ich will darlegen, wie Tantra im Buddhismus gelehrt wird — und zwar nach den Aussagen des Buddha Shākyamuni, der als Mönch Gautama vor ca. 2500 Jahren in Indien diese buddhistischen Lehren gegeben hat. Das Tantra wird innerhalb der verschiedenen Lehren des Buddha als die höchste Lehre betrachtet, und es wurde nicht in der Öffentlichkeit gelehrt. Man nennt es auch das Diamant-Fahrzeug oder Vajra-Fahrzeug.

Der Buddha gab Lehren für unterschiedliche Schüler
Der Buddha hat drei Ebenen von Belehrungen gegeben: Erstens hat er den sogenannten Pfad, der frei von Leidenschaften ist, dargelegt — und zwar für diejenigen, die ein »geringeres « Ziel anstreben. Zweitens lehrte er den umfassenden Pfad, das sogenannte Vollkommenheitsfahrzeug. Drittens hat der Buddha mit dem Tantra einen äußerst tiefgründigen Pfad erklärt.

Die Schüler haben unterschiedliche Veranlagungen. Einige streben als hauptsächliches Ziel ihre persönliche Befreiung an, d.h. sie sind damit zufrieden, die eigene vollständige Leidfreiheit zu erreichen. Dies nennt man ein geringeres Ziel, weil nur die persönliche Leidfreiheit angestrebt wird. Buddha lehrte diesen Pfad im sog. Kleinen Fahrzeug. Darüber hinaus hat der Buddha Belehrungen für diejenigen gegeben, die über die persönliche Leidfreiheit hinaus einen Zustand anstreben, in dem sie allen Wesen von größtem Nutzen sein können. Sie streben aus altruistischen Motiven nach Erleuchtung, nach Buddhaschaft. Dieser Pfad wird in den Lehren des Großen Fahrzeugs, des Mahāyāna, gezeigt. Für Praktizierende dieser Ebene gibt es zwei Fahrzeuge: das Vollkommenheits- Fahrzeug und das Diamant-Fahrzeug.

Auf dem Pfad des allgemeinen Mahāyāna, dem allgemeinen Bodhisattva- Pfad, werden die umfassenden Bodhisattvahandlungen über lange Zeit geübt, bis man schließlich die Buddhaschaft erreicht. Einige Schüler, die ganz besondere Begabungen und Voraussetzungen besitzen und eine sehr starke altruistische Motivation haben, möchten jedoch schnell

die Buddhaschaft zum Wohle anderer erreichen und benötigen dazu besonders tiefgründige Mittel. Diesen hat der Buddha einen Pfad gelehrt, der — wie es heißt — »mit Begierde verbunden ist«. Auf diesem Pfad lassen sich selbst Leidenschaften wie Begierde integrieren. Das Resultat ist das sehr schnelle Erreichen der Buddhaschaft, falls der Übende die entsprechenden Voraussetzungen besitzt. Dies ist der Pfad des Tantra, des sog. geheimen Mantra.

Die Vollkommenheit des Meisters Buddha
Der Buddha hat seine Unterweisungen in verschiedenen körperlichen Erscheinungen gegeben. Die Lehren des Kleinen Fahrzeugs und des allgemeinen Großen Fahrzeugs hat er in seiner menschlichen Gestalt, in der Erscheinung eines Mönchs, gegeben. Bei den tantrischen Unterweisungen hat er sich in einer göttlichen Form, dem Körper des vollkommenen Erfreuens (sambhogakaya) gezeigt. Je nachdem, welches Tantra und welche Gottheit der Buddha gelehrt hat, zeigte er sich in der Gestalt dieser Meditationsgottheit, z.B. als Kālacakra oder Guhyasamāja. Aufgrund ihrer tiefgründigen Natur können diese Lehren nur von Wesen mit den entsprechenden Begabungen und Voraussetzungen praktiziert werden. Deshalb hat der Buddha sie in einer speziellen Erscheinungsform an spezielle Schüler weitergegeben und nicht an die Öffentlichkeit.

Maitreya erklärt, daß der Buddha in der Lage ist, aus seinem Geist heraus verschiedenste Manifestationen zur gleichen Zeit hervorzubringen. Der Buddha kann demnach zu allen Zeiten zum Wohl vieler Wesen die unterschied-lichsten Belehrungen geben. Auf den ersten Blick scheint dies nicht glaubhaft, doch bedenkt man, welche Voll-kommenheit der Buddha erreicht hat, dann gibt es keinen Grund, warum der Buddha in seiner Heilsaktivität begrenzt sein sollte. Wenn man Zuflucht zum Buddha, seiner Lehre und der geistigen Gemeinschaft nimmt, denkt man über die Qualitäten nach, die diese drei Zufluchtsobjekte besitzen. Bezogen auf den Buddha denkt man über die hervor-ragenden Eigenschaften seines Körpers, seiner Rede und seines Geistes nach. Man macht sich bewußt, daß er über lange Zeit einen Pfad zur Vollendung gebracht hat, auf dem er sich in altruistischen Handlungen zum Wohle der anderen und in der Vervollkommnung seiner Weisheit geübt hat. So ist er tatsächlich in die Lage versetzt worden, gleichzeitig zum Wohle vieler Wesen zu wirken.

Es ist für einen Buddha nicht möglich, daß er das Wohl eines Wesens außerachtlassen oder vernachlässigen müßte, weil er vielleicht zu spät kommt, weil er nicht den richtigen Zeitpunkt abgepaßt hat, weil er gerade an einem anderen Ort beschäftigt wäre, weil er die Voraussetzungen und Bedürfnisse des einzelnen Wesens nicht erkennen würde oder ihm die entsprechenden Lehren und Mittel fehlen würden, diesem Wesen zu helfen. Sobald von der Seite des Wesens her die Bedingungen (z.B. Vertrauen) vorhanden sind, ist der Buddha in der Lage, direkt, unmittelbar und ohne Verzögerung diesem Wesen von großem Nutzen zu sein.

Überlieferung des buddhistischen Tantra in Indien
Als der Buddha die Mahāyāna-Belehrungen — speziell die Tantra-Belehrungen — gegeben hat, gab es unter seinen Anhängern herausragende Schüler, die sich all seine Belehrungen fehlerfrei merken konnten, auch ohne Notizblock. Der Buddha übertrug ihnen die Verantwortung, diese Lehren zu überliefern und bekannt zu machen, wenn die entsprechenden Umstände es erlaubten. So wurden diese Lehren hauptsächlich von Vajrapāni, einem Bodhisattva Schüler des Buddha, im menschlichen Bereich, aber auch in Reinen Buddhaländern aufbewahrt und an Schüler weitergegeben.

In Indien sind die tantrischen Unterweisungen dann über die verschiedenen Generationen von Meistern und Schülern überliefert worden. Einige besonders weit entwickelte Praktizierende sind als die 84 Mahāsiddhas, die 84 großen verwirklichten Wesen, bekannt geworden. Unter ihnen gibt es einen Siddha namens Lupa1, der ein Prinz war. Er war der mittlere von drei Söhnen und dafür vorgesehen, die Regierungsgeschäfte und das Königreich zu übernehmen. Lupa hatte aber keinerlei Interesse daran, weil er sehr deutlich die Nachteile eines solchen rein weltlichen Lebens sah und den starken Wunsch hatte, die Befreiung zu erreichen und seinen Geist weiterzuentwickeln. Er flüchtete aus dem Königspalast und begab sich in die Waldeinsamkeit, wo er einen Meditationsmeister traf, der ihm Unterweisungen gab. Er praktizierte in der Einsamkeit sehr intensiv die tantrischen Belehrungen, die er erhalten hatte, und erlangte hohe Verwirklichungen, die Stufe eines Mahāsiddha.

Das Tantra gelangt nach Tibet
Was die Überlieferung der Lehren von Indien nach Tibet angeht, so begann sie mit einem der großen religiösen Könige in Tibet, dem König Songtsen Gampo, im 7. Jahrhundert. Zur Zeit von Songtsen Gampo gab es noch keine ausgefeilte tibetische Schrift, mit der man in der Lage gewesen wäre, die indischen Texte des Buddhismus zu übersetzen. So schickte der König einen seiner Minister nach Indien, um in Zusammenarbeit mit den indischen Gelehrten eine Schrift zu entwickeln. Tibetische Übersetzer und indische Gelehrte konnten dann gemeinsam die indisch-buddhistischen Schriften Schritt für Schritt ins Tibetische übersetzen.

Zur Zeit der späteren Könige wie Trisong Detsen stand dann ein vollständiges System zur Verfügung, mit dem alle wichtigen Schriften aus dem Indischen ins Tibetische übersetzt werden konnten. Der König Trisong Detsen lebte im 8. Jahrhundert, als die Phase der frühen Übersetzung des Tantra aus dem Sanskrit ins Tibetische begann. Dies war auch die Zeit, zu der große indische Meister wie Padmasambhava und Shāntarakshita nach Tibet eingeladen wurden, um dort die Lehre zu verbreiten. Der König Trisong Detsen lebte im 8. Jahrhundert, als die Phase der frühen Übersetzung des Tantra aus dem Sanskrit ins Tibetische begann. Dies war auch die Zeit, zu der große indische Meister wie Padmasambhava und Shāntarakshita nach Tibet eingeladen wurden, um dort die Lehre zu verbreiten. Shāntarakshita gründete das erste Kloster in Tibet, das berühmte Kloster Samye, wo er zuerst sieben tibetische Mönche ordinierte, darunter den Übersetzer Lotsawa Vairocana. Dieser übersetzte viele berühmte tantrische Schriften aus dem Sanskrit ins Tibetische, wie z.B. das »Tantra der großen Vollendung«.

Die Schriften wurden sehr genau übersetzt. Ein tibetischer Übersetzer und ein indischer Gelehrter arbeiteten jeweils zusammen. Man legte Wert auf absolute Genauigkeit. Allerdings wurden nicht nur Übersetzungen angefertigt, sondern die Lehren wurden auch praktiziert, verwirklicht und dann weitergegeben. So richteten die Tibeter sogenannte Schulen für die Praxis der Meditation ein — einige für Ordinierte, andere für Laien.

Unabdingbare Voraussetzung für Tantra: Das Wohl aller Lebewesen an die erste Stelle setzen
In Indien und in Tibet legten die Meister großen Wert darauf, daß für die tantrische Praxis die entsprechenden Voraussetzungen im Geist bestanden. Die Schüler mußten die grundlegenden Stufen auf dem Pfad geübt haben. Jede buddhistische Praxis basiert auf der Zufluchtnahme zu den Drei Juwelen: Buddha, Dharma und Sangha. Wer Zuflucht zum Dharma nimmt, verpflichtet sich, nach einer ethischen Lebensführung zu streben. Ethik besteht darin, heilsame Handlungen zu üben und unheilsame Handlungen, die andere schädigen, zu unterlassen. So bildet die ethische Lebensführung die Grundlage für jede buddhistische Praxis.

Die Übung des Mahāyāna hat darüber hinaus die Entwicklung des altruistischen Strebens nach Erleuchtung, den Erleuchtungsgeist, zur Grundlage. So heißt es in der speziellen Mahāyāna-Zuflucht: »Solange ich noch nicht die Buddhaschaft zum Wohle aller Wesen, die Vollkommenheit, erreicht habe, nehme ich meine Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha. Mein Ziel ist es, die Vollkommenheit zu erlangen, den Zustand der drei Körper eines Buddha. Solange ich dies noch nicht verwirklicht habe, nehme ich meine Zuflucht zu den Drei Juwelen.«

Das Fundament für eine solche Geisteshaltung sind liebevolle Zuneigung und Mitgefühl. Diese Tugenden muß man entwickeln, um überhaupt die Verantwortung für das höchste Wohl aller Wesen auf sich nehmen zu können. Man muß die Ethik eines Bodhisattva praktizieren und sowohl das Bodhisattva- als auch das Tantra-Gelübde annehmen. Als Vorbedingung für die wirksame Meditation sollte man eine Initiation von einem qualifizierten Lehrer in die jeweilige Praxis erhalten.

In einem Tantra hat der Buddha gesagt: »Wer ohne Initiation diese Methoden praktiziert, ist wie jemand, der durch das Auspressen von Sand Öl gewinnen will.« Das ist nicht möglich, und genauso kann man ohne Initiation nicht die gewünschten Verwirklichungen auf dem Pfad erlangen. Auch wenn jemand intelligent ist und sich aus Büchern oder Erklärungen Zugang zu diesen Methoden verschafft, ohne eine Initiation erhalten zu haben, wird dies eine Quelle für viele Probleme sein — sowohl für den Praktizierenden selbst als auch für den Lehrer, der sie ihm ohne entsprechende Vorbereitung gegeben hat.

Kern der Tantra-Praxis: Reine Wahrnehmungen entwickeln
Das Ziel, die Buddhaschaft zum Wohle aller Wesen zu erreichen, erlangt man nur, indem man entsprechend wirkungsvolle Mittel praktiziert. Die tiefgründigsten und effektivsten Mittel hat der Buddha im Tantra gelehrt — und zwar für jene Schüler, die eine sehr starke mitfühlende Geisteshaltung haben und möglichst schnell die Buddhaschaft zum Wohle aller Wesen erreichen wollen. Sie bestehen vor allem darin, daß das Ergebnis in Form der drei vollendeten Körper des Buddha in den Pfad integriert wird; der Übende identifiziert sich schon auf dem Pfad damit.

In den tantrischen Meditationen übt man einerseits Mitgefühl und liebevolle Zuneigung zu den anderen Wesen, andererseits entwickelt der Übende eine besondere Form der Wahrnehmung, in der er sowohl sich selbst als auch die Umgebung in einem vollkommenen Zustand visualisiert — so wie es dem Resultat, der Buddhaschaft, entspricht, das er zu erlangen wünscht. Man denkt sich die Umgebung mit den Wesen darin als eine göttliche Umgebung, wie ein Reines Buddha-Land, und sich selbst, den eigenen Körper, die Rede und den Geist als Körper, Rede und Geist der Meditationsgottheit, d.h. des Buddha, über den man meditiert. Alle inneren und äußeren Phänomene werden in einem vollkommenen reinen Zustand visualisiert, wie sie auf der Ebene der Buddhaschaft existieren und vom Buddha erlebt werden.

Obwohl das natürlich zur Zeit des Pfades noch nicht die Realität ist, wird diese Wahrnehmung in der Meditation hervorgerufen. In diesem Sinne sind auch die verschiedenen tantrischen Abbildungen auf den tibetischen Thangkas zu verstehen, auf denen Gottheiten und göttliche Umgebungen, sogenannte Mandalas, abgebildet sind. Uns mögen diese Darstellungen sehr schön, bunt und ästhetisch erscheinen, aber das ist nicht der eigentliche Sinn. Jede Einzelheit eines solchen Bildes hat eine symbolische Bedeutung. Das Mandala, also der Palast, in dem sich die Gottheit befindet und in dem man sich in der Meditation visualisiert, symbolisiert beispielsweise die 37 Eigenschaften, die die Erleuchtung herbeiführen; diese werden auf jedem buddhistischen Pfad geübt. Andere Symbole stehen für andere Eigenschaften, die auf dem Pfad entwickelt werden und die dann zur Zeit der Buddhaschaft in einem vollendeten Zustand bestehen.

In dem Mandala, dem Palast, in dem sich die Gottheit befindet, stellt das östliche Tor die Vier Vergegenwärtigungen dar, das südliche Tor die Vier Arten des Rechten Aufgebens von Hindernissen, das westliche Tor die Vier Stützen für die Konzentration, das nördliche Tor die Fünf geistigen Kräfte usw. So haben alle Details eine Symbolik. Sie symbolisieren die verschiedenen Eigenschaften, die auf dem Pfad geübt und vollendet werden. Außerhalb des Mandalas, am äußeren Kreis, sieht man einen Flammenkranz. Es handelt sich hier nicht um gewöhnliche Flammen oder elektrisches Licht, sondern um das Feuer der höchsten Weisheit. Mit dem Feuer der Weisheit kann man auf dem Pfad alle Hindernisse und Beschränkungen des Geistes überwinden und dann mit der Vollendung der Buddhaschaft alle Phänomene erkennen, wie sie in ihrer konventionellen und endgültigen Bestehensweise sind.

Diese Weisheit, die die eigentliche Realität erkennt, hat eine sehr große Kraft, um die falschen, verblendeten Geisteszustände zu überwinden. Deshalb wird sie durch ein heftiges Feuer symbolisiert. Dadurch, daß sich dieses Feuer an dem äußeren Kranz des Mandalas befindet, wird zum Ausdruck gebracht, daß alle Erscheinungen innerhalb dieses Feuerkranzes, also auch die Gottheiten in dem Mandala, Manifestationen dieser höchsten, von allen Fehlern freien Weisheit des Buddha sind.

Alle Gottheiten im Mandala symbolisieren die völlige Reinheit von Körper, Rede und Geist, die ein Buddha verwirklicht hat, und die man selbst als Praktizierender durch diese Methoden verwirklichen will. Dies ist nur kurz angedeutet die reichhaltige Symbolik eines Mandala.

Mißverständnisse über die tantrische Praxis
Nachdem der Buddhismus, einschließlich des Tantra, einige Jahrhunderte lang überliefert wurde, gab es etwa um die Jahrtausendwende in Tibet viele Mißverständnisse über das Verhältnis von tantrischen und nicht-tantrischen Lehren des Buddhismus. Viele Übende waren der Ansicht, daß sich beide Lehren widersprächen. Sie dachten, daß man entweder ein Anhänger des Tantra sein müßte oder ein Praktizierender der nicht-tantrischen Lehren. Nur wenige waren in der Lage, diese beiden Fahrzeuge als eine Einheit zu betrachten.

Weitere Mißverständnisse drehten sich um die Inhalte des Tantra, das auch die »Lehre, die mit Leidenschaften, mit Begierde« verbunden ist, genannt wird. Manche waren der Auffassung, sie könnten — ohne entsprechende Stufen auf dem Pfad absolviert zu haben — Handlungen durchführen, die eigentlich negativer Natur sind wie sexuelles Fehlverhalten, das Nehmen von berauschenden Mitteln oder gar Töten. Diese Mißverständnisse führten zu einer Degeneration der tantrischen Lehren in Tibet.

Einigen Tibetern bereitete dies große Sorgen um den Fortbestand der buddhistischen Lehre in Tibet überhaupt. Speziell ein Fürst aus Westtibet mit dem Namen Yeshe Ö versuchte mit vielen Mitteln und unter großen Schwierigkeiten, einen geeigneten indischen Meister nach Tibet einzuladen, um diese Mißverständnisse zu klären. Er schaffte es schließlich, den großen indischen Meister Atisha nach Tibet zu bringen. Atisha klärte die Mißverständnisse und zeigte deutlich, wie die verschiedenen Lehren des Buddha, die tantrischen und die nicht-tantrischen, zusammengehören. Er schuf ein gutes Fundament für den Bestand und die Weiterentwicklung der buddhistischen Lehre in Tibet. Lama Yeshe Ö bat Atisha, seine Lehren so darzulegen, daß sie die grundlegenden Lehren des Buddha hervorhoben — das Gesetz von Karma, also dem Zusammenhang zwischen Handlungen und ihren Wirkungen, wie es der Buddha gelehrt hat.

Atisha hat in Tibet eine berühmte Schrift verfaßt: »Die Lampe auf dem Pfad zur Erleuchtung«. Darin stellt er klar, wie die verschiedenen Teile der Lehre des Buddha als eine Einheit zu betrachten sind. Atisha erklärte, wie eine Person, die den Buddhismus in seiner Vollständigkeit praktizieren möchte, ein ganzes Leben lang — und sogar an einem Tag — tantrische und nicht-tantrische Lehren miteinander verbinden kann. Der Meister machte in dieser Schrift klar, daß ein Übender, der die Buddhaschaft anstrebt, den Pfad schrittweise praktizieren und die Übungen der sogenannten drei Praktizierenden durchführen muß: Jeder sollte zuerst auf der Stufe eines anfänglichen Praktizierenden eine ethische Lebensführung entwickeln, heilsame Handlungen üben und unheilsame Handlungen unterlassen, um niedrige Wiedergeburten zu vermeiden. Auf der mittleren Stufe entwickelt ein Praktizierender ein echtes Streben nach der Befreiung aus dem gesamten Daseinskreislauf. Auf der höchsten Stufe bringt der Übende einen vollständigen Altruismus hervor; er strebt aus altruistischen Motiven zum Wohle aller Wesen die Buddhaschaft an, und mit dieser Geisteshaltung übt er die verschiedenen Handlungen eines Bodhisattva wie Freigebigkeit usw.

Atisha machte unmißverständlich klar, daß jeder, der den Weg zur Buddhaschaft gehen möchte, eine ethische Disziplin benötigt und eines der sogenannten acht Prātimoksha-Gelübde, der Gelübde zur eigenen Befreiung, annehmen sollte. Die höchsten Gelübde zur eigenen Befreiung sind die Gelübde eines vollordinierten Mönches oder einer vollordinierten Nonne. Zumindest sollte eine Person das Gelübde eines Laienschülers oder einer Laienschülerin annehmen und darauf aufbauend sich um die Verwirklichung der verschiedenen Stufen auf dem Pfad bemühen.

Atisha legt in seiner Schrift »Die Lampe auf dem Pfad« dar: Wer, aufbauend auf diesen allgemeinen Pfaden der drei Praktizierenden in die tantrische Praxis eintreten möchte, der sollte dies tun, indem er von einem qualifizierten Meister die Initiation erhält, das Tantra-Gelübde annimmt und dann auf der Grundlage der tantrischen Ethik diese speziellen Lehren praktiziert.

Zweck des Tantra: Schnellstmöglich den Wesen helfen
Was ist nun der Zweck der tantrischen Praxis, wozu besteht die Notwendigkeit dieser Methode, und warum hat der Buddha sie gelehrt? Alle Wesen sind verschiedenen Formen des Leidens ausgesetzt und benötigen Befreiung von diesem Leiden. Diese Situation der Wesen vor Augen, strebt man die Buddhaschaft an, um die Wesen befreien zu können. Je früher man die Vollkommenheit eines Buddha erlangt, desto eher ist man in der Lage, in großem Umfang das Wohl der Wesen zu erwirken. Deshalb ist es für die anderen Wesen von Vorteil, wenn man die Buddhaschaft schnellstmöglich erreicht. Um einer solchen, sehr starken altruistischen, mitfühlenden Geisteshaltung zu entsprechen, hat der Buddha besonders effektive Methoden gelehrt, die relativ schnell, im Vergleich zu anderen Pfaden sehr schnell, die Buddhaschaft ermöglichen. Deshalb hat er diese speziellen tantrischen Lehren gegeben.

Fragen
Frage: Warum wird gesagt, daß das Tantra ein Weg ist, der mit Leidenschaften verbunden ist?

Geshe Thubten: Auf den nicht-tantrischen Pfaden müssen ganz spezielle Gegenmittel angewendet werden, um die Leidenschaften wie hauptsächlich Begierde zu überwinden. Im tantrischen Fahrzeug wird es anders praktiziert, obwohl natürlich auch hier die Leidenschaften aufzugeben sind. Wenn ein qualifizierter Schüler die entsprechenden Voraussetzungen besitzt — wie das sehr große Erbarmen, die liebevolle Zuneigung, die Weisheit, die die endgültige Realität erkennt —, dann ist die tantrische Praxis so effektiv, daß diese Leidenschaften auf dem Pfad überwunden werden, obwohl man keine spezifischen Gegenmittel gegen sie anwendet. Es heißt, daß ein Schüler mit entsprechenden Voraussetzungen diese Leidenschaften sogar mit in den Pfad integrieren kann. Auf diese Weise macht er sehr schnell Fortschritte auf dem Pfad.

Auf dem nicht-tantrischen Pfad sind diese Leidenschaften als »Hauptleidenschaften « eingestuft. Man spricht von dem »Pfad ohne Begierde «. Im Tantra wird die Begierde dennoch auf dem Pfad überwunden, selbst wenn nicht spezielle Mittel gegen sie angewendet werden.

Das wichtigste ist, daß man sich korrekt einzuschätzen weiß und erkennt, welche Übungen innerhalb der Lehre des Buddha man wirklich praktizieren kann. Ob tantrischer oder nicht-tantrischer Pfad — entscheidend ist, daß man mit einem qualifizierten Lehrer zusammentrifft, Belehrungen erhält und dadurch dann in die Lage versetzt wird, seinen eigenen Geist korrekt zu beurteilen. Man muß überprüfen, welche Fähigkeiten man hat und dann die Belehrungen praktizieren. Das ist sehr wichtig. Man sollte nicht, aufbauend auf Fehleinschätzungen, Methoden praktizieren, für die man gar nicht die Voraussetzungen hat.

Frage: Als Buddha die tantrischen Belehrungen gegeben hat, nahm er die Form der entsprechenden Gottheit an. Können Sie zu diesem Begriff Gottheit in Zusammenhang mit dem Buddhismus etwas sagen?

Gesche Thubten: Wenn hier von Gottheit gesprochen wird, so ist damit der Buddha selbst gemeint. Wer die Buddhaschaft erreicht hat, hat einen vollkommenen Geist, den Dharmakāya entwickelt. Dieses höchste Weisheitsbewußtsein ist frei von allen Fehlern und mit allen Erkenntnissen und Tugenden ausgestattet. Dieses Weisheitsbewußtsein kann sich auch körperlich manifestieren, d.h. in verschiedenen körperlichen Erscheinungen auftreten. Entsprechend den Veranlagungen und Voraussetzungen des jeweiligen Schülers erscheint der Buddha, also das höchste Weisheitsbewußtsein, in einer bestimmten Form, darunter auch in solchen Erscheinungsformen mit göttlicher Kleidung, Schmuckstücken und Symbolen, die die Vollkommenheit des Buddha anzeigen. Diese Gottheiten sieht man auch auf tibetischen Thangkas; es sind vollendete Buddhas, bzw. Erscheinungsformen dieses höchsten, vollendeten, von allen Fehlern freien Geistes.

Frage: Buddha hat sozusagen bei Null angefangen und die buddhistischen Lehren selbst begründet. Ist es nicht heute genauso für uns möglich, solche Lehren zu schaffen? Welchen Sinn hat speziell die buddhistische Lehre. Kann man nur durch sie die Erleuchtung erlangen?

Geshe Thubten: Eine Person, die aus innerer Überzeugung einer bestimmten Religion angehört, weil sie ihren Wert sieht und sie für korrekt und hilfreich hält, wird natürlich die eigene Religion für die hilfreichste halten. Das heißt nicht, daß andere Religionen nicht genauso hilfreich sind, d.h. Mittel bereitstellen, mit denen sich die verschiedenen Ziele auf dem Pfad erreichen lassen. Die großen Religionen haben gute Früchte getragen, wenn Menschen ihre eigentlichen Inhalte ernsthaft praktizierten. Der Buddhismus sagt nicht, daß allein mit dem Buddhismus die Erleuchtung erlangt werden könnte, wohl aber daß man in jedem Fall bestimmte Methoden praktizieren muß wie Ethik, Liebe, Mitgefühl und die Weisheit der endgültigen Realität. Ohne diese Praxis ist es nicht möglich, die endgültige Befreiung vom Leiden zu erreichen. Natürlich kann man auch neue Religionen schaffen; es gibt die verschiedensten Veranlagungen der Menschen. Ich denke aber, anstatt immer wieder neue Religionen ins Leben zu rufen, weil man mit den alten nicht zufrieden ist, ist es hilfreicher, zuerst einmal die vorhandenen Religionen korrekt zu verstehen, die Fehler zu beseitigen, die sich im Laufe der Zeit in verschiedenen Traditionen entwikkelt haben und ihre Essenz zu praktizieren.

Frage: Gibt es von den verschiedenen Wegen, die der Buddhismus anbietet, einen, der für die westlichen Menschen besonders geeignet ist?

Gesche Thubten: Das ist eine wichtige Frage. Der Buddhismus bietet nicht verschiedene Wege an, so daß man sich für den einen oder anderen entscheiden muß, sondern die Lehren bauen aufeinander auf. Man beginnt, die Lehren des Kleinen Fahrzeugs zu üben, geht dann zu den allgemeinen Mahāyāna-Schulungen über, und wenn der Geist entsprechend geschult ist, kann man das Tantra praktizieren. Das Ziel ist, alle diese Lehren in die persönliche Praxis eines Lebens zu integrieren. Der Geist wandelt sich. Wir wissen, daß sich unsere Weisheit weiterentwickelt, unsere Ansichten sich verändern. Genauso wird sich der Geist durch die spirituelle Praxis weiterentwickeln, und man wird irgendwann in der Lage sein, die höheren Pfade oder Lehren zu verstehen und zu praktizieren. Darin liegt der Sinn der verschiedenen Fahrzeuge.

1. Deutsche Übersetzung dieser Legende in Keith Dowman: Die Meister der Mahāmudrā. S. 55. (München 1991)

Nach einer mündlichen Übersetzung von Christof Spitz, überarbeitet von Birgit Stratmann