Wie schützen wir unsere Gelübde?
Wir drucken im Folgenden Auszüge aus Unterweisungen von Geshe Thubten Ngawang, zusammengestellt von Lydia Muellbauer, die er im Februar 1996 in Bodhgaya anläßlich des Seminars „Leben als westliche buddhistische Nonne“ hielt. Die Passagen wurden gewählt, da sie von allgemeinem Interesse und hilfreich auch für Laien-Praktizierende sein können.
Als Buddha Shākyamuni die Vier Edlen Wahrheiten lehrte, äußerte er sich auch über die drei höheren Schulungen: die Schulung der Disziplin, Konzentration und Weisheit. Diese drei Schulungen sind in den drei Schriftensammlungen enthalten:
1. Der Sammlung der Disziplin,
2. Der Sammlung der Sutras und
3. Der Sammlung des Höheren Wissens.
Der Begriff Vinaya bezieht sich auf die Schriftensammlung der Disziplin. Die Schulung der moralischen Disziplin bildet die Grundlage aller Dharmas. Der Vinaya ist die Basis für alle Schriftensammlungen.
Als Buddhisten sehen wir in Buddha unsere Zuflucht. Er ist derjenige, der uns in eine positive Richtung lenkt und zur endgültigen Befreiung führt, die eine vollständige Beendigung vom Leiden und den Ursachen des Leidens ist. Um dies zu verdeutlichen, gibt es das Bild des Buddhas, in dem er mit dem Finger auf den Mond zeigt. Der Buddha ist nicht unsere endgültige Zuflucht; er weist uns nur den Weg, damit wir das endgültige Ziel erlangen können. Von seiner Etymologie her bedeutet das Wort „Vinaya“ „zähmen“, d.h. die Leidenschaften eindämmen und die negativen Hand-lungen aufgeben. Die negativen Handlungen werden durch die Schulung der moralischen Disziplin unterbunden. Auf der Grundlage einer stabilen moralischen Disziplin wird es möglich sein, Konzentration und Weisheit zu entwickeln. Sie sind die eigentlichen Mittel, um die Ursachen aller Leiden, die Leidenschaften, zu überwinden.
Die Leidenschaften sind die Wurzel aller unheilsamen Handlungen; sie werden durch die Schulung von Konzentration und Weisheit zerstört. Die Bedeutung des Begriffes Vinaya ist in diesem Kontext zu sehen; sie ist daher sehr umfas-send. Um Konzentration zu entwickeln, richten wir den Geist in konzentrativer Meditation auf ein Objekt. Gestützt auf Vergegenwärtigung und wachsame Selbstprüfung durchlaufen wir die neun Stufen zur Entwicklung Geistiger Ruhe. Wir verbinden das ruhige Verweilen mit der Besonderen Einsicht, einer Weisheit, die alle Leidenschaften überwindet. Der Buddha kann uns diesen Weg zeigen, aber er kann uns die Verwirklichungen des Aufgebens und Erlangens nicht in den Schoß legen. Wir müssen uns selbst von unseren Befleckungen reinigen und den Dharma verwirklichen. Daher ist die Zuflucht zum Dharma die wichtigste, die endgültige Zuflucht. Der Dharma wirkt als Gegenmittel gegen die Leidenschaften. Wenn wir gut Dharma praktizieren, werden die Leidenschaften in uns immer weiter abnehmen, und die heilsamen Kräfte werden allmählich zunehmen, bis wir die Befreiung erreicht haben.
Zur Schulung der ethischen Disziplin zählen die acht Prātimoksha-Gelübde, die sich in zwei Gruppen zusammen-fassen lassen: die fünf Gelübde der Hauslosigkeit und die drei Gelübde der Laienpraktizierenden. „Hauslosigkeit“ bezieht sich auf das Nehmen der Ordinationsgelübde. Die drei Gelübde für Laien sind das eintägige Gelübde, das Gelübde eines Laienschülers und das einer Laienschülerin. Das Sanskritwort „prāti“ kann „individuell“ oder „anfänglich“ bedeuten, „moksha“ heißt „Befreiung“. Das Nehmen und Einhalten eines Prātimoksha-Gelübdes versetzt eine Person in die Lage, die Befreiung zu erlangen. In unserem Geisteskontinuum kämpfen die heilsamen und unheilsamen Geistesfaktoren miteinander. Dharma-Praxis besteht darin, die heilsame Seite zu stärken und die unheilsamen Aspekte zu verringern und schließlich ganz aufzugeben. Der Dalai Lama betont immer wieder, daß bei einer religiösen Person der größte Kampf in ihrem Innern stattfindet, was er manchmal als das „Land der Leidenschaften“ bezeichnet. Unser wirklicher Feind ist in uns selbst zu finden, nicht in anderen Wesen. Gegenteilige Gelübde: Bindung an das Unheilsame Im Abhidharma, den Schriften über das Höhere Wissen, wird der Begriff „gegenteiliges Gelübde“ verwendet. Das bedeutet, daß sich eine Person auf eine unheilsame Lebensweise festlegt, sich quasi daran bindet, auch wenn es nicht bewußt geschieht. Beispiele sind Fischer oder Schlächter, die ihren Lebensunterhalt verdienen, indem sie Tiere töten. Auch Menschen, die Waffen herstellen oder damit handeln, und Soldaten haben gegenteilige Gelübde. Folgen auf die Entscheidung, seinen Lebenserwerb auf diese Weise zu verdienen, sprachliche und körper-liche Handlungen, entstehen damit Bindungen. In einigen Ländern übernehmen die Kinder manchmal den Beruf ihrer Eltern. Wenn zum Beispiel eine Person in eine Familie hineingeboren wird, in der Großvater und Vater Fischer oder Fischverkäufer waren, folgt auch der Sohn ganz natürlich dieser Familientradition. Mit der Verpflichtung auf diesen Beruf entsteht ein gegenteiliges Gelübde, ohne daß die Person an einem bestimmten Tag eine bewußte Entscheidung darüber fällt.
Bevor eine unheilsame Handlung ausgeführt wird, sind ihre Samen aufgrund des Entschlusses dazu schon vorhanden. Erst wenn wir einen entgegengesetzten Kurs einschlagen, uns bewußt vom Unheilsamen abwenden, wird das gegenteilige Gelübde aus unserem Geisteskontinuum getilgt. Bedenken wir darüber hinaus die Nachteile des Kreislaufs von Tod und Wiedergeburt, werden uns unserer unheilsamen Handlungen bewußt, die uns selbst und anderen Schaden zufügen, und denken über die Vorteile der Befreiung nach, erschaffen wir in uns den Geist der Entsagung, den Wunsch nach Befreiung. Mit der Motivation der Entsagung können wir ein Prātimoksha-Gelübde nehmen, dessen Regeln bestimmten gegenteiligen Gelübden direkt entgegenwirken. Die Verpflichtung, nicht zu töten, wie wir sie im Laiengelübde auf uns nehmen, zerstört das gegenteilige Gelübde des Tötens.
Methoden, die Gelübde zu schützen
Man sollte sein Gelübde wie den Augapfel schützen. Das Gesicht ist ein sensibler Teil unseres Körpers, und die Augen sind besonders empfindlich. Wenn wir fallen, schützen wir diese Körperregion zuerst. Die gleiche Sorgfalt sollten wir unseren Gelübden entgegenbringen. Sobald wir erkennen, wie wichtig und wertvoll unser Gelübde ist, werden wir danach streben, die Methoden zum Schutz des Gelübdes kennen zu lernen. Für Ordinierte werden fünf Arten erklärt, das Gelübde zu schützen.
1. Wissen, was aufzugeben und was anzunehmen ist.
2. Sich auf innere Bedingungen stützen: Vergegenwärtigung und wachsame Selbstprüfung.
3. Sich auf äußere Bedingungen stützen, das heißt auf einen geistigen Lehrer, der bestimmte Qualifikationen hat.
4. Sich auf angenehme Bedingungen stützen: Dabei geht es um die nötigen materiellen Lebensumstände.
5. Ritual zur Wiederherstellung und Reinigung des Gelübdes.
Zuallererst müssen wir die Gelübde, die wir auf uns genommen haben, mit ihren einzelnen Regeln kennen. Es ist sehr wichtig, daß wir ein tiefes Verständnis von dem entwickeln, was aufzugeben und was anzunehmen ist. Wir betrachten uns selbst und analysieren, welche Handlungen, Geisteszustände und geistigen Tendenzen bei uns vorherrschen. Wenn wir uns unserer Leidenschaften bewußt sind, wenden wir Gegenmittel an, um sie einzudämmen. Es ist wichtig, daß wir die Natur unserer negativen Handlungen verstehen, im Fall von Übertretungen der Gelübde sollten wir erkennen, ob es sich um eine Übertretung der Hauptregeln oder der Nebenregeln handelt.
Als zweites sind die Faktoren der Vergegenwärtigung und Selbstprüfung von großer Bedeutung. Durch sie erkennen wir, ob unsere Handlungen heilsam oder unheilsam sind. Die Vergegenwärtigung hilft uns, unsere negativen Hand-lungen der Vergangenheit nicht zu vergessen und uns unserer gegenwärtigen Handlungen bewußt zu werden. Außer-dem stellt dieser Geistesfaktor die Verbindung zu zukünftigen Handlungen her. Wachsame Selbstprüfung ist ein Faktor, der nach innen, auf den eigenen Geist schaut. Wenn wir konzentrative Meditation üben und uns auf ein bestimmtes Objekt konzentrieren, registriert die Selbstprüfung, ob der Geist beim Meditationsobjekt ist oder davon abschweift. Um unsere Gelübde zu schützen, hilft die Vergegenwärtigung, daß wir uns an die angenommenen Regeln erinnern. Mit Hilfe der Selbstprüfung werden wir gewahr, welche Handlungen wir gerade ausführen. Ein Analogie: Wenn wir eine Wunde am Körper haben und uns in einer Menschenmenge aufhalten, achten wir wir sehr sorgsam darauf, daß sie nicht berührt wird. In der gleichen Weise sollten wir, die wir Gelübde genommen haben, bemüht sein, diese mit Vergegenwärtigung und Selbstprüfung zu schützen. Es ist von größter Wichtigkeit, daß wir die drei Tore von Körper, Sprache und Geist bewachen, indem wir Vergegenwärtigung und Selbstprüfung üben. Ihre Bedeutung wird übrigens nicht nur im Vinaya betont, sondern auch im Bodhisattva-Pitaka. Im Bodhicaryāvatāra von Shāntideva werden sie in einem eigenen Kapitel behandelt.
Wenn man den eigenen Geist nicht zähmt, werden die verschiedenen Dharmaübungen, um die man sich bemüht, keinen großen Nutzen haben. Die Vergegenwärtigung und Selbstprüfung werden nicht nur in den Schriften erwähnt, sondern auch von vielen großen Praktizierenden als sehr wichtig erachtet. Der Kadampa-Geshe Bengugyal sagte, daß er die Vergegenwärtigung und die Selbstprüfung in der gleichen Weise einsetze wie ein Murmeltierjäger den Speer. Murmeltiere halten sich für gewöhnlich tief unter der Erde auf, und wer sie erlegen will, muß mit einem Speer vor dem Erdloch warten. Sobald das Murmeltier auftaucht, wird es getötet. Bengugyal sagt, so wie ein Murmeltierjäger den Speer benutzt, um das Murmeltier zu töten, so bediene er sich des Speers der Vergegenwärtigung und der Selbstprüfung, um die Leidenschaften unschädlich zu machen, sobald sie in seinem Geist erscheinen. Wenn die Leidenschaften sehr intensiv seien, müsse auch er große Bemühungen aufwenden. Seien die Leidenschaften weniger manifest, so könne er die Zügel lockern. Dies waren Bengugyals Worte, und wir sollten in der gleichen Weise prak-tizieren. Natürlich muß jede Person ihren Fähigkeiten entsprechend praktizieren. Die Ratschläge für die Dharma-Praxis können auf verschiedenen Ebenen umgesetzt werden. Je genauer wir sie befolgen, umso größer wird der Nutzen sein. Ignorieren wir sie, können sie auch nichts bewirken.
Als drittes Mittel, die Gelübde zu schützen, stützt man sich auf einen geistigen Lehrer, der drei besondere Eigen-schaften hat: Er sollte verehrungswürdig, stabil und gelehrt sein. Es gibt noch viele weitere wünschenswerte Eigen- schaften, wie die Bereitschaft, anderen Wesen zu helfen, und das Wissen darüber, unter welchen Umständen der Buddha bestimmte Regeln aufstellte. Auch der Schüler sollte bestimmte Qualitäten haben, vor allem Interesse an buddhistischer Philosophie, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Die Dinge erscheinen manchmal anders, als sie in Wirklich-keit sind, doch sollte sich der Schüler nicht durch die Erscheinungen blenden lassen. Er sollte nicht parteilich sein, mit Vorurteilen beladen, sondern aufrecht nach der Wahrheit streben und sich nicht nur vom äußeren Anschein leiten lassen. Er sollte Enthusiasmus und Interesse am Lernen des Dharma haben. In den Schriften wird vom Schüler gefordert, er solle aufrecht, offen und unparteiisch sein. Auch Intelligenz ist wichtig, wir müssen das Richtige vom Falschen unterscheiden können. Der Schüler sollte darüber hinaus in der Lage sein, in der richtigen Weise zuzuhören und sich an Ratschläge des Lehrers zu erinnern.
Im Vinaya wird der Lehrer nicht mit einem Buddha gleichgesetzt; es wird jedoch gesagt, daß die Eigenschaften des Lehrers ähnlich denen eines Buddha seien und daß der Lehrer aus diesem Grunde als Verdienstfeld anzusehen ist.
Der vierte Punkt heißt: sich auf angenehme Bedingungen stützen. Mönche und Nonnen schützen ihr Gelübde, indem sie sich auf angemessene materielle Bedingungen stützen, das heißt auf die Gegenstände des täglichen Lebens wie Nahrung, Wohnung usw., die sie für ihre Praxis benötigen. Wir sollten keinem unrechten Lebenserwerb nachgehen und Dinge, die wir benötigen, auf eine rechte Weise erwerben. Ursprünglich wurde gelehrt, daß die Ordinierten ihre Nahrung dadurch erwerben sollten, daß sie mit ihren Bettelschalen um Nahrung bitten. Da sich jedoch die Zeiten und Umstände geändert haben und wir nicht in Indien leben, kann es sein, daß diese Art des Nahrungserwerbs für Ordi-nierte heute nicht mehr möglich ist. In diesem Fall sollten wir wenigstens danach streben, unseren Lebensunterhalt auf rechte Weise und im Einklang mit den Konventionen der Gesellschaft zu verdienen. Sich im Einklang mit den Gebräu-chen der Gesellschaft zu verhalten, ist natürlich auch für die Laien bindend.
Der fünfte Punkt ist die Bereinigung von Übertretungen. Wenn wir unheilsam gehandelt und unser Gelübde übertreten haben, wenden wir die vier Kräfte zur Bereinigung an: die Kraft des Bereuens unheilsamer Handlungen, die Kraft des Entschlusses, solche Handlungen nicht mehr auszuführen, die Kraft des Gegenmittels, also die Durchführung spezieller Reinigungspraktiken und heilsamer Handlungen, sowie die Kraft der Stütze, was sich auf die Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sa‡gha und das Erzeugen des Wunsches, zum Wohl der Wesen zu wirken, bezieht.
Wenn wir uns auf diese Weise üben, uns von unheilsamen Handlungen abwenden, Gelübde auf uns nehmen, die auf die Befreiung gerichtet sind, und mit Hilfe der fünf Punkte diese Gelübde rein halten, so hat dies einen unschätzbaren Wert, gerade heute. Die Praxis des Dharma ist heute relativ selten anzutreffen. Das war früher, etwa zu Lebzeiten des Buddha, anders: Der Buddha selbst war präsent, die Menschen hatten starkes Vertrauen, und es herrschten sehr vorteilhafte Bedingungen für die Dharmapraxis. Es gab sehr viele Praktizierende, sowohl Ordinierte als auch Laien. Heute sind die Bedingungen für die Dharmapraxis nicht mehr so ideal; die Praxis ist schwieriger geworden. Wenn wir trotz aller Schwierigkeiten nur ein wenig praktizieren, so ist dies bereits sehr wertvoll und nutzbringend. In der Schrift Voraussage des Buddha Maitreya sagt Maitreya, daß es in den schwierigen Zeiten (so wie heute) nur möglich ist, ein wenig von der Praxis auszuüben. Wichtig sei es dann, freundlich miteinander umzugehen, ein gutes Herz zu entwickeln und in Harmonie miteinander zu leben. Buddha Maitreya sagte, daß dies die Ursache dafür sei, in Zukunft eine besondere Beziehung zu ihm zu entwickeln, und daß er sich persönlich um solche Praktizierenden sorgen werde.
Nach der mündlichen Übersetzung aus dem Tibetischen von Sönam und Gelongma Jampa Tsedroen, überarbeitet von Gelongma Thubten Choedroen.