Mitgefühl entsteht aus Einsicht in die Wirklichkeit
Seine Heiligkeit der Dalai Lama
Wie Tarab Tulku in seinen einleitenden Worten sagte, nehme ich nun seit etwa 15 Jahren aktiv an Gesprächen zwischen Wissenschaftlern verschiedener Richtungen und buddhistischen Gelehrten teil. Erst letzte Woche gab es das zehnte Treffen im Rahmen der Konferenz „Mind Life“. Ich habe in In-dien darauf hingewirkt, dass in den klösterlichen Instituten dort besondere Mönchsstudenten ausgewählt werden, die sich intensiver mit den westlichen Wissenschaften auseinandersetzen und diese erlernen sollen.
Objektiv betrachtet haben die moderne Wissenschaft und die alte indische Wissenschaft des Geistes verschiedene Ziele. Dennoch haben nach meinem Gefühl beide auch eine Gemeinsamkeit in der Herangehensweise, die da heißt: Sei kritisch und forsche nach, analysiere, experimentiere. Dadurch erschließt sich die Realität klarer, und man kann seine Thesen verifizieren und die Wirklichkeit ergründen. Ich denke seit vielen Jahren, dass es zwar verschiedene Forschungsobjekte gibt, dass aber die Basis recht ähnlich ist; das macht einen fruchtbaren Dialog möglich.
Gesprächsstoff gibt es meines Erachtens in den Feldern der Kosmologie, Neurobiologie und Physik - Teilchenphysik, Quantenphysik - sowie Psychologie. Im Buddhismus haben wir bestimmte Erklärungen zur Kosmologie und Neurobiologie, die jedoch recht grob und vage sind. Die moderne Wissenschaft hat viel detailliertere Kenntnisse. Für Buddhisten ist es daher sehr nützlich, von der Wissenschaft zu lernen. Im Bereich der Psychologie jedoch ist der Buddhismus viel weiter fortgeschritten als die moderne Psychologie.
Im Laufe der Zeit interessieren sich immer mehr Wissenschaftler für die buddhistische Philosophie. In diesem Sinne sind auch die „Mind Life“-Konferenzen zu sehen. Gleichzeitig hegen Buddhisten mehr Interesse an den westlichen Wissenschaften. Das war nicht immer so. In Tibet oder unter tibetischen Studenten und Gelehrten in Indien wurden die westlichen Wissenschaften manchmal als etwas Fremdes betrachtet, was auch daran liegt, dass im Buddhismus hinsichtlich der Kosmologie überholte Konzepte vertreten wurden:
Einige unserer Gelehrten denken heute noch, dass die Erde eine flache Scheibe ist, mit dem Berg Meru in der Mitte; das ist überholt, und viele sehen es heute auch so. Die Herangehensweise an die Wissenschaft hat sich geändert. Im Grunde ist unsere Vorgehensweise einer kritisch-analysierenden Betrachtung ähnlich. Nach 15 Jahren des Bemühens um einen Dialog reifen nun die ersten Früchte heran.
Meine Motivation dabei ist nicht, den Buddha-Dharma zu propagieren. Ich finde das falsch, denn die verschiedenen menschlichen Gemeinschaften haben jeweils ihre eigene angestammte Tradition. Der religiöse Glaube entsteht auf Grund einer bestimmten Umgebung und bestimmten Bedingungen. Daher ist die Tradition, in der man lebt, für die meisten passender. Wir sollten uns fragen, wie wir der Menschheit aus unserer eigenen Tradition heraus dienen können.
Es gibt jedoch Individuen, die durch ihre angestammte Religion nicht mehr sehr viel Hilfe erfahren. Stattdessen fühlen sie sich von einer anderen Religion angezogen. Ich denke, es ist das Recht des Einzelnen, sich einer anderen Tradition zuzuwenden, wenn sie für ihn hilfreicher ist. Dabei sollte man den Respekt gegenüber der alten Religion bewahren.
Unter den Milliarden Menschen, die auf der Erde leben, gibt es unterschiedliche Neigungen, Lebensgewohnheiten etc.. Dementsprechend muss es auch eine Vielzahl von Religionen geben, und diese können friedlich miteinander leben.
Wir unterscheiden zwei Aspekte in der Religion: die Praxis und die Philosophie. Was die praktische Seite betrifft, so sind die Religionen gleich darin, dass sie Werte wie Liebe, Mitgefühl, Toleranz, Vergebung, Selbstdisziplin, Einfachheit und Genügsamkeit in den Mittelpunkt stellen. Auf der Seite der Philosophie gibt es gravierende Unterschiede wie den Glauben an einen Schöpfergott im Islam und die Dreifaltigkeit im Christentum, die vielleicht etwas ausgefeilter ist. Dann haben wir nichttheistische Religionen wie Buddhismus und Jainimus, wobei letzterer ein atman, ein ewiges Selbst annimmt, während der Buddhismus es verneint.
Wir haben selbst im Buddhismus verschiedene philosophische Sichtweisen zur Natur der Wirklichkeit. All dies sind Konzepte, die der Buddha gelehrt hat, auch wenn sie widersprüchlich sind, denn die Cittamatra- und die Prasangika-Lehrmeinung widersprechen sich teilweise in ihren Aussagen. Nun können wir uns fragen, warum eine Person, der Buddha, so unterschiedliche Lehren gab. Der Grund ist, dass sich der Buddha in seinen Lehren auf die geistigen Veranlagungen seiner Schüler eingestellt hat. Ich finde, es ist eine große Hilfe, dass jeder eine Sichtweise annehmen kann, die zu ihm passt und die er verständlich findet. Die Philosophie ist kein Selbstzweck, sondern dient dazu, die eigentliche religiöse Praxis zu unterstützen. Aus diesem Grund sind die verschiedenen Philosophien sehr hilfreich.
Intelligenz - ein zweischneidiges Schwert
Alle Lebewesen haben den angeborenen Wunsch nach Glück, also angenehmen Empfindungen, und nach der Überwindung von Leiden. Als lebende Wesen sind wir dadurch charakterisiert, dass wir Glück und Schmerz erleben, dass wir die Freude anstreben und das Leiden fernhalten möchten. Alles Lebende hat ein Recht auf Existenz. Setzen wir dies in Bezug zu den fühlenden Wesen, so besteht einerseits der Wunsch, überhaupt weiterzuleben, und andererseits der Wunsch, in diesem Leben glücklich zu sein. So können wir sagen, dass ein Sinn unseres Lebens das Streben nach Glück ist, dass ein Ziel unseres Lebens ist, glücklich zu sein.
Menschen, die den Wunsch haben, zu leben und Glück zu erreichen, fühlen sich in ihrer Lebenskraft gestärkt, während Menschen, die ihre Hoffnung verlieren und resignieren, ihren Lebenswillen verlieren, was sich auch auf ihre Gesundheit niederschlägt. Wenn eine Person ihre Hoffnung verliert, besteht sogar die Gefahr, dass sie Selbstmord begeht. Daher ist dieser Wunsch nach Glück für unser körperliches und geistiges Wohlbefinden zentral.
Wir Menschen haben eine außergewöhnliche Intelligenz und Kraft zu denken und zu verstehen. Deshalb haben Menschen die große Fähigkeit, ihre Sichtweise, ihre Motivation durch Nachdenken positiv zu verändern. Obwohl die Tiere den gleichen Wunsch nach Glück verspüren, haben wir doch als Menschen mehr Fähigkeiten. Wir können langfristig denken und freiwillig einen kurzfristigen Nutzen opfern, um etwas Positives für die lange Sicht zu erlangen.
Was die eigentliche Natur des Glücks betrifft, so gibt es zwei Arten: eine Art von Glück steht in Verbindung mit dem Körper und den Sinneswahrnehmungen, eine andere Art mit dem Geist. Die erste Art haben wir mit anderen Lebewesen gemeinsam. Aber auf der geistigen Ebene gibt es große Unterschiede, einfach weil wir mehr Intelligenz haben. Die Tiere sind schon einigermaßen zufrieden, wenn sie gut genährt sind, eine Behausung haben und keinen größeren Störungen ausgesetzt sind. Sie denken nicht: „Was wird wohl nächstes Jahr passieren?“
Als Menschen sind wir mit so einem Leben nicht zufrieden. Wir denken nicht nur an das nächste Jahr, sondern vielleicht sogar an das nächste Jahrhundert oder an die nächsten Generationen unserer Enkel. Deshalb haben wir mehr Sorgen und Furcht. Und dies liegt an unserer Intelligenz. Intelligenz selbst ist etwas Bemerkenswertes, Gutes, aber sie kann auch Unwohlsein, Extra-Leiden auf geistiger Ebene bringen.
Wir können körperliches Glück erfahren, indem wir die materielle Entwicklung vorantreiben. Geistige Zufriedenheit können wir durch bloßen materiellen Fortschritt nicht erlangen. Da geistiges Unwohlsein, Unausgeglichenheit, Unruhe aus unserer Intelligenz entstehen, müssen wir in der Intelligenz auch das Gegenmittel suchen. Es wäre unlogisch, ein Problem, das von der Intelligenz hervorgebracht wurde, durch materielle Mittel zu lösen. Genau dies gilt für Probleme im Bereich des Körpers oder der Materie, dass wir sie mit materiellen Mitteln beheben können. Innere Schwierigkeiten müssen mit Mitteln des Inneren überwunden werden. Materieller und spiritueller Fortschritt müssen zusammenkommen. Dann wird unser Leben bedeutungsvoller und vollständiger.
Alle Teile der Welt sind meine eigenen
Was die Spiritualität betrifft, so gibt es zwei Arten: eine religiös motivierte und eine „weltliche“. Sie entsteht, wenn wir uns die Wirklichkeit vor Augen führen und uns die Notwendigkeit grundlegender menschlicher Werte bewusst machen. Ich nenne dies eine säkulare Ethik. Hier können wir den Bogen zum Abhängigen Entstehen schlagen und uns überlegen: Meine Zukunft hängt von anderen ab. Die Zukunft der Menschheit hängt von der Umwelt ab. Unsere Welt heute ist so beschaffen, dass alle Teile der Welt meine eigenen Teile sind.
Unsere Zukunft hängt also von anderen ab. Daher müssen wir uns um andere sorgen, damit wir ein glückliches Leben in der Zukunft haben. In der Realität ist mein persönliches Interesse sehr stark mit den Interessen anderer verbunden. Daher ist die Sorge um die anderen gleichbedeutend mit der Sorge um mich selbst, und die Sorge um die Umwelt ist gleichbedeutend mit der Sorge um unsere eigene Zukunft.
Sobald wir das Abhängige Entstehen verstanden und ein klares Bild von der wechselseitigen Abhängigkeit ha-ben, ist dies von einem enormen Nutzen, um eine umfassende Perspektive zu entwickeln. Wir können überlegen: Ich möchte ein glückliches Leben führen, aber dies hängt von vielen Ursachen und Bedingungen ab. Da ich glücklich sein möchte, muss ich mich also um die Ursachen und Bedingungen kümmern, die dieses Ziel fördern. Wenn wir unsere Perspektive ausgeweitet haben, wird auch klar, dass wir Sorge für andere tragen müssen, denn wir sind ein Teil der Gemeinschaft. Daraus ergibt sich ein größeres Verantwortungsgefühl, das Bewusstsein, Verantwortung für andere tragen zu müssen.
Dies ist keine speziell religiöse Sichtweise, und man muss sich nicht auf Religion stützen, um sie zu üben. Die Verantwortung entsteht einfach auf Grund der Erkenntnis der Realität, der wechselseitigen Beziehungen und der Natur, wie Leiden und Glück entstehen. Aus dieser Einsicht kann echtes Mitgefühl erwachsen, und das verstehe ich unter säkularer Ethik.
Indem wir die Wirklichkeit untersuchen und schauen, wie Glück und Leiden entstehen, entstehen in uns bestimmte Überzeugungen: Wenn wir andere schädigen oder die Rechte anderer ignorieren, werden wir selbst Leiden erleben. Wenn wir uns um andere kümmern, eine altruistische Einstellung entwickeln, werden wir selbst dadurch viel erlangen. So ist es eine ganz falsche Sichtweise zu denken, die Gedanken von Liebe und Mitgefühl seien religiöse Belange, sie seien für unseren Alltag nicht relevant.
Manchmal haben wir auch das Gefühl, die Praxis des Mitgefühls helfe zwar den anderen, sei aber für uns selbst nicht von Bedeutung; wir könnten sogar denken, dass diese Übung uns nur noch mehr Sorgen und Leiden bereitet. Dieser Eindruck ist falsch. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass der größte Nutzen aus der Übung des Mitgefühls für den Übenden selbst bewirkt wird.
Der Nutzen, der durch diese Übung für andere erreicht wird, hängt sehr stark von weiteren Faktoren ab. Ein Beispiel: Ob ich jemanden kenne oder nicht, normalerweise lächle ich, wenn ich jemand anders treffe. Dadurch erlange ich selbst Zufriedenheit, und auch der andere schenkt mir ein Lächeln, was für beide Seiten Glück bedeutet. Manchmal ist es aber auch so, dass ich lächle und die Leute misstrauisch werden. Ich denke: „Okay, der andere lächelt nicht, er ist misstrauisch, leidet darunter - es ist sein Pech.“ Ich will damit sagen: Die Übung des Mitgefühls nutzt einem selbst am besten; ob sie dem anderen nutzt, hängt von weiteren Faktoren ab.
So ist die Praxis des Mitgefühls wirklich etwas ganz Großartiges, sie gibt uns innere Kraft, mehr Selbstvertrauen, Willenskraft und Geduld angesichts von Problemen, ohne dabei die Hoffnung und Entschlossenheit zu verlieren. Aus dieser weiteren Perspektive unseres Geistes finden wir dann auch Lösungen für Probleme, die wir durch eine begrenzte, egoistische Sichtweise nicht gefunden hätten. Alle Religionen, die Liebe und Mitgefühl propagieren, sollten sich bewusst sein, dass dies keine rein religiösen Werte sind, sondern menschliche Werte, die in jedem Leben von großer Bedeutung sind.
Aus dem Tibetischen übersetzt von Christof Spitz