Was ist Unwissenheit?
Seine Heiligkeit der Dalai Lama
Auszug aus dem neu erschienenen Buch: Der XIV. Dalai Lama Tenzin Gyatso: Die Lehre des Buddha vom Abhängigen Entstehen. Die Entstehung des Leidens und der Weg zur Befreiung. Hamburg, dharma edition, 1996.
Generell gibt es viele verschiedene Formen von Unwissenheit. Eine Form der Unwissenheit besteht in dem Faktor des bloßen Nichtwissens in Bezug darauf, wie die Dinge wirklich existieren; sie ist eine bloße Trübung des Geistes. In den Zwölf Gliedern des Abhängigen Entstehens wird unter Unwissenheit nicht ein bloßes Nichtwissen verstanden, sondern ein verkehrtes Bewußtsein, das die Dinge anders auffaßt, als sie eigentlich sind. Sie besteht in Vorstellungen, die im Gegensatz zur tatsächlichen Wirklichkeit stehen.
Unwissenheit ist die bedeutendste unter den Leidenschaften, die wir zu überwinden suchen. Die Leidenschaften unterteilen sich in angeborene und intellektuell angeeignete. Intellektuell angeeignete Leidenschaften gründen auf nichtkorrekten Lehrmeinungen, aus denen der Geist durch gedankliche Konzepte neue Leidenschaften hervorbringt und fördert. Nicht alle Wesen besitzen solche auf philosophischer Spekulation beruhende Leidenschaften; folglich können sie nicht die Wurzel für das Verderben der Lebewesen sein. Die Leidenschaften, die tatsächlich die Wurzel für die leidhafte Situation aller fühlenden Wesen bilden, sind angeboren. Wie Nāgārjuna in seinen 'Siebzig Versen über die Leerheit' sagt:
Das Bewußtsein, das Dinge, die in Abhängigkeit von Ursachen und Umständen entstanden sind, als endgültig existent erfaßt, wird von dem Lehrer [Buddha] „Unwissenheit“ genannt. Von dieser gehen die Zwölf Glieder aus.
Somit handelt es sich um ein Bewußtsein, das in angeborener Weise die Phänomene mißversteht und falsch auffaßt, nämlich so, als existierten sie aus eigener Kraft und nicht abhängig.
Dieses Bewußtsein bezieht sich auf verschiedene Arten von Objekten. Daher unterteilt man die Unwissenheit in eine Form, die bei der Wahrnehmung von Personen fälschlich eine inhärente Existenz erfaßt, und in eine andere, die die inhärente Existenz bei der Wahrnehmung anderer Phänomene erfaßt. Entsprechend bezeichnet man die erste Form der Unwissenheit als Bewußtsein, das ein Selbst der Person auffaßt, und die zweite als Bewußtsein, das ein Selbst der Phänomene auffaßt.
Die Vorstellung vom Selbst der Person ist wiederum zweifach: In einem Fall nimmt man eine andere Person wahr und betrachtet sie als inhärent existent. Im anderen Fall nimmt man die eigene Person wahr und betrachtet sich selbst als inhärent existentes „Ich“. Letzteres wird als „falsche Ansicht über die vergängliche Anhäufung“ bezeichnet. In dem oben zitierten Vers weist Nāgārjuna darauf hin, daß die angeborene falsche Ansicht über die vergängliche Anhäufung, die die Wurzel des Daseinskreislaufs ist, in der irrtümlichen Vorstellung liegt, das eigene Selbst sei inhärent existent. Diese falsche Ansicht wiederum entsteht in Abhängigkeit von der verblendeten Vorstellung, die körperlichen und geistigen Aggregate, die die Grundlage für die Benennung des Selbst bilden – also der eigene Körper und Geist – existierten inhärent.
Obwohl beide Ansichten unwissendes Bewußtsein sind, das inhärente Existenz erfaßt, bildet in dieser Weise die Vorstellung von einem Selbst der Phänomene die Basis für die angeborene falsche Ansicht über die vergängliche Anhäufung, mit der man fälschlich glaubt, die eigene Person bestehe inhärent. Es gibt noch eine andere, gröbere Form der angeborenen falschen Vorstellung eines Selbst der Person, die darin besteht, daß man Personen irrtümlich als etwas substantiell Existentes im Sinne eines eigenständigen Selbst auffaßt.
Wenn wir über unsere eigenen Begierden und unseren Haß nachdenken, können wir feststellen, daß diese Gefühle des Verlangens nach Geliebtem und der Aversion gegenüber Ungeliebtem innerhalb der Vorstellung entstehen, es gäbe ein ganz konkret vorhandenes, deutlich wahrnehmbares „Selbst“ als Erlebenden. Aufgrund der Art und Weise, wie wir uns selbst als greifbar und solide wahrnehmen, treffen wir immense Unterscheidungen zwischen uns „selbst“ und „anderen“, woraus Anhaftung an die eigene Seite und Ablehnung der anderen folgt. Geisteszuständen von Gier und Haß liegt stets ein übertriebener Gedanke von „Ich“ zugrunde.
In der Tat existiert ein konventionelles, gültiges Ich. Es gibt ein Ich, das die Person ist, die Handlungen vollführt, Karma ansammelt und die Glück und Leiden als Früchte dieser Handlungen erlebt. Untersuchen wir jedoch die Art und Weise, wie unser Geist das Ich in dem Moment erfaßt, wenn das Ich zu einem Unruhestifter wird, entdecken wir, daß ein eigenmächtiges, unabhängiges Ich erfaßt wird, das eine Übertreibung dessen ist, was wirklich existiert. Wenn ein solches Ich dem Geist erscheint, erscheint es nicht als Ich, das in Abhängigkeit der Aggregate von Körper und Geist benannt wird, sondern es scheint so, als hätte es seine eigene, separate Entität.
Würde es tatsächlich in der greifbaren, unabhängigen Weise existieren, wie es erscheint, müßte es bei näherer Analyse mit den Begründungen des Mittleren Weges um so deutlicher in Erscheinung treten. Suchen wir jedoch mit Hilfe der Argumente des Mittleren Weges nach einem solchen Ich, wird es immer weniger deutlich wahrnehmbar, bis es schließlich gar nicht mehr gefunden werden kann. Wäre das Ich so konkret und unabhängig, müßte es bei näherer Untersuchung auffindbar sein; aber die Tatsache, daß wir das Ich nicht finden, wenn wir danach suchen, weist darauf hin, daß es nur in Abhängigkeit von einer unter bestimmten Bedingungen erfolgten Benennung existiert und darüber hinaus nicht. Dennoch erscheint es unserem Geist, als könnte man konkret auf das Ich zeigen, und wenn wir diese falsche Erscheinung als die Realität annehmen, geraten wir in Schwierigkeiten.
Der Konflikt zwischen der Art und Weise, in der das Ich als sehr konkret erscheint, und der Tatsache, daß es bei genauer Analyse nicht auffindbar ist, deutet darauf hin, daß es eine Diskrepanz zwischen der Art der Erscheinung und der tatsächlichen Existenzweise gibt. Physiker treffen eine ähnliche Unterscheidung zwischen dem, was erscheint, und dem, was wirklich existiert.
In unserer eigenen Erfahrung können wir verschiedene Ausprägungen und damit verschiedene Ebenen des Verlangens ausmachen. Wenn wir in einem Laden eine Ware sehen und haben möchten, entsteht damit eine anfängliche Form des Verlangens. Wenn wir den Gegenstand dann gekauft haben und denken: „Er gehört mir“, ist das eine andere Ebene. Beide Bewußtseinszustände gleichen sich darin, daß sie Begierde sind, aber sie unterscheiden sich in der Stärke.
Es ist wichtig, drei Ebenen der Erscheinung und des Erfassens zu unterscheiden. Auf der ersten Ebene erscheint das Objekt nur; in diesem Stadium entsteht noch keine Begierde, es handelt sich mehr um das bloße Wahrnehmen und Erkennen eines Objekts. Wenn wir dann denken: „Oh, das ist wirklich gut“ und Verlangen aufkommt, besteht eine andere Ebene der Art und Weise, wie uns das Objekt erscheint und wie wir es erfassen. Haben wir uns dann entschieden, den Gegenstand zu kaufen, nennen ihn unser eigen und schätzen ihn als unseren Besitz wert, haben wir es mit einer dritten Ebene der Erscheinungs- und Erfassensweise zu tun.
Selbst wenn das Objekt auf der ersten Ebene lediglich erscheint und wahrgenommen wird, scheint es doch schon inhärent, von seiner eigenen Seite zu existieren. Doch der Geist ist in diesem Zustand noch nicht intensiv mit seinem Objekt beschäftigt und noch nicht sehr daran gebunden. Auf der zweiten Ebene wird von der Unwissenheit, die das Objekt so erfaßt, als bestünde es von seiner eigenen Seite her, Verlangen nach dem Objekt erzeugt. Es gibt einen feinen Grad der Begierde, die zur gleichen Zeit existieren kann, in der das Bewußtsein das Objekt als inhärent erfaßt. Wenn jedoch die Begierde stärker wird, wirkt die Vorstellung von inhärenter Existenz des Objekts als ihre Ursache; die Unwissenheit bringt dann die Begierde hervor, existiert aber nicht exakt zur gleichen Zeit wie die von ihr erzeugte Begierde, sondern jeweils einen Moment zuvor.
Es ist entscheidend, daß Sie in Ihrer eigenen Erfahrung die folgenden Vorgänge nachvollziehen:
• Auf der ersten Ebene erscheint das Objekt nur inhärent existent.
• Auf der zweiten Ebene stimmt das Bewußtsein dieser Erscheinung zu, weil es sie als die Realität annimmt. Das Objekt wird als inhärent existent erfaßt, und Begierde entsteht.
• Auf der dritten Ebene haben wir das angenehme Objekt gekauft und in Besitz genommen. Nun wird es mit einer starken Vorstellung von Eigentum vermischt, und wir betrachten es als über die Maßen wertvoll.
Am Ende dieses Prozesses kommen zwei gewaltige Ströme von Anhaftung zusammen: das Hängen an dem vermeintlich inhärent angenehmen Objekt und das Haften am Selbst; und beide lassen die Begierde nur noch weiter anwachsen. Denken Sie darüber nach, ob das so ist oder nicht. Das gleiche gilt für den Haß. Es gibt eine anfängliche Stufe, auf der man zunächst eine konventionell gültige Wahrnehmung der Eigenschaften eines Objekts hat; zum Beispiel, wenn man etwas Schlechtes sieht und entsprechend als schlecht identifiziert. Die zweite Ebene ist wirksam, wenn man denkt: „Oh, das ist wirklich schlecht“ und Haß entsteht. Wenn dieses Gefühl der Aversion zudem mit dem Selbst in Verbindung gebracht wird, verstärkt es sich. Wird das Objekt dann als etwas angesehen, das Ihnen vielleicht schaden könnte, entwickelt sich noch stärkerer Haß.
Sowohl Begierde als auch Haß werden von der Unwissenheit, die in der Vorstellung von inhärenter Existenz besteht, unterstützt. So ist das Schwein (das Symbol für die Unwissenheit) die Ursache für all die Schwierigkeiten. Und nach dem tibetischen Kalender fällt mein Geburtsjahr mit dem Jahr des Schweins zusammen!
Auf diese Weise ist die trübende Unwissenheit die Wurzel aller Leidenschaften. Dieses unwissende Bewußtsein selbst ist verdunkelt im Hinblick auf die Bestehensweise der Phänomene, folglich wird es in der Zeichnung durch einen Blinden symbolisiert. Da die Unwissenheit schwach ist in dem Sinn, daß sie keine Basis in einer gültigen Erkenntnis hat, geht die Person an einem Stock.