Ein guter Lehrer hat nichts zu verbergen
Seine Heiligkeit der Dalai Lama
Der folgende Text stammt aus den Unterweisungen Seiner Heiligkeit in Frankreich im April 1997. Mit freundlicher Genehmigung des Bureau du Tibet, 84 bd. Adolphe Pinard, 75014 Paris, das den Besuch organisiert hat.
Für einen Dharma-Praktizierenden ist es bedeutsam, einen Lehrer zu haben. Es muß sich jedoch um einen qualifizierten Lehrer handeln, und an diesem Punkt sollten wir sehr sorgsam sein. Weil der Schüler sich einem Lama anvertraut, hat der Buddha Standards aufgezeigt, denen ein Lehrer genügen muß - und zwar für jede Stufe der Praxis. Angefangen vom Vinaya bis zum Tantra muß der Lehrer bestimmte Eigenschaften besitzen, die ihn für die jeweilige Stufe qualifizieren. Wenn wir uns einem Lama anvertrauen und eine Schüler-Lehrer- Beziehung aufnehmen wollen, ist es äußerst wichtig, daß wir die Person dahingehend überprüfen und uns fragen, ob sie die entsprechenden Eigenschaften besitzt.
Wir können Unterweisungen und Erklärungen über Dharma zuhören, ohne den Lehrenden als unseren spirituellen Meister zu betrachten. Wir gehen einfach dorthin, informieren uns über buddhistische Themen, ohne die Wahrnehmung zu entwickeln, daß die Person unser persönlicher Lehrer ist. In dem Prozeß, einen geeigneten Lehrer zu finden, sollten wir uns Zeit lassen. Wir können eine Person über Monate und Jahre hinweg prüfen und beobachten. Ich habe schon oft gesagt, daß wir eine lange Nase zum Schnüffeln brauchen, um herauszufinden, ob eine Person für uns als persönlicher Lehrer in Frage kommt oder nicht. Selbstverständlich sollten wir bei unserer Überprüfung eine aufrichtige Motivation und ein gutes Herz haben.
Wir sprechen oft davon, daß Menschen eine Privatsphäre haben, in die niemand hineinschauen darf. Dies trifft jedoch auf den Lama nicht zu. Es ist nicht angemessen, daß ein Lehrer eine bestimmte Fassade vor sich herträgt und sich hinter den Kulissen in einer ganz anderen Weise verhält. Ein guter Lehrer hat nichts zu verbergen. Deshalb ist es wichtig, ihn zu untersuchen, sonst kann aus dieser Verbindung eine Art Kult werden. Es ist möglich, daß eine Person den Buddhismus für seine persönlichen Interessen mißbraucht. Der Buddha hat aus diesem Grund Eigenschaften erklärt, die ein Lehrer besitzen muß. Darüber hinaus hat er zum Beispiel im Vinaya dargelegt, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, wenn ein Lehrer sich nicht entsprechend den Anforderungen und entgegen dem Dharma verhält.
Auch in den Mahāyāna-Unterweisungen hat der Buddha gesagt, daß der Lehrer im Einklang mit dem Heilsamen handeln soll und nicht in Übereinstimmung mit dem Unheilsamen. Im Tantra finden sich ähnliche Aussagen: In den Fünfzig Versen über das Anvertrauen an den Guru von Aoevaghosha, in denen geschildert wird, wie ein Schüler im Höchsten Yoga-Tantra sich dem Lehrer gegenüber zu verhalten hat, heißt es sinngemäß: Wenn man mit Logik und Überlegungen die Anweisungen des Lama untersucht hat und zu dem Schluß kommt, daß man sie nicht praktizieren kann, soll man das mit Worten deutlich machen und auf diese Weise das Problem ausräumen. Was immer der Lama sagt, muß man gründlich untersuchen und sich fragen:
Stimmt es mit der Ethik und den Regeln des Buddhismus überein? Wenn man den Eindruck gewinnt, daß dies nicht der Fall ist und die Anweisungen nicht dem Dharma gemäß sind, soll man die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen, sondern mit dem Lehrer darüber sprechen. Im Gespräch kann man erklären, warum einige seiner Anweisungen diesen oder jenen Lehren des Buddhas zu widersprechen scheinen und warum man sich nicht in der Lage sieht, sie zu praktizieren.
Ich mache mir manchmal Sorgen um Schüler, die geistig instabil und nicht sehr stark sind und die einen Lama für etwas ganz Besonderes halten, zu ihm gehen und alles annehmen, was er sagt, ohne es zu überprüfen. Sie geben sich völlig auf, und ich sehe darin eine große Gefahr. Bevor man sich einem Lama ganz anvertraut, muß man ein gutes Verständnis des Dharma erlangen. Mittlerweile sind viele Dharma- Bücher in westliche Sprachen übersetzt, und so können wir uns einige Kenntnisse aneignen. Auf dieser Basis müssen wir Personen, die als Lehrer für uns in Frage kommen, dahingehend untersuchen, ob sie die geforderten Eigenschaften besitzen und ob ihre Erklärungen mit dem übereinstimmen, was wir schon über den Dharma wissen. So können wir uns allmählich ein Bild machen und eine stabile Entscheidung darüber treffen, ob wir eine Schüler-Lehrer-Beziehung einzugehen wünschen.
Wenn man am Anfang nicht richtig nachdenkt und vorschnell eine solche Beziehung eingeht, wird die Praxis des Guru-Yoga und der Hingabe an den Lama eine echte Last, die man kaum tragen kann. Allgemein heißt es in den Dharma-Anweisungen: „Welche Aufgabe du immer beginnen möchtest, untersuche sie zuerst genau, frage dich, was du zu tun hast und ob du dem gewachsen bist. Sei besonders vorsichtig beim Verhältnis zu einem geistigen Lehrer und gehe es nicht überstürzt ein.“
Aus dem Tibetischen von Chistof Spitz