Zu Besuch am Wohnsitz des Dalai Lamas

Auf sie folgen die Mönche mit ihren kahl rasierten Köpfen und dunkelroten Kutten. Dann reihen sich die Pilger und Touristen ein, Schulkinder und Arbeiter, Bauern und Geschäftsfrauen. Dharamsala begrüßt den Tag. Und der Tag beginnt mit der Kora.

Die Kora: Die traditionelle Umrundung des Klosters im Uhrzeigersinn gehört zu den wichtigsten tibetischen Ritualen. Ein schmaler Pfad schlängelt sich durch die dicht bewaldeten Hänge rund um den Gebäudekomplex am Rande der Stadt: das berühmte Namgyal-Kloster, der Wohnsitz des Dalai Lama. Seit seiner Flucht 1959 lebt das Oberhaupt der Buddhisten hier im Exil. Ausgerechnet hier. Dharamsala, oder besser gesagt McLeod Ganj, der höher gelegene Stadtteil des Ortes, ist ein gewöhnliches Bergdorf mit rund 11 000 Einwohnern irgendwo im Nirgendwo des indischen Bundesstaates Himachal Pradesh: schiefe Häuser, hohe Fichten, vollgestopfte Garagenläden und jede Menge hupender Taxen. Am Straßenrand rösten Bauern Maiskolben, Motorradfahrer schlängeln sich durch Passanten hindurch, und ab und zu versperren ihnen dösende Kühe den Weg. Typisch indisch.

Und doch ist diese Stadt anders. Es gibt Momos und Milchtee in den Restaurants, Frauen mit Türkisohrringen und Männer mit Gebetsketten an den Handgelenken, Fenster mit rot-gelb-blauen Borten und Türen mit weißen Windfängen. Über den Dächern flattern Gebetsfahnen im Wind, und hinter den Häusern ragen die gewaltigen Gipfel des Himalaya in den Himmel. Es ist ein kleines Tibet, ein buddhistisches Eiland mitten im hinduistisch geprägten Indien, eine Pilgerstätte für Dalai-Lama-Anhänger aus aller Welt.

Auch für Sagar Lama, Mitte 30, gebürtiger Inder, Sozialarbeiter. Seit einem Jahr wohnt er hier und managt ein kleines Gästehaus mitten im Ort. Warum ausgerechnet Dharamsala? "Die einzigartige Atmosphäre hier hat mich angezogen", sagt er. "Es ist eine Mischung aus Nachdenklichkeit und Gelassenheit, die all die Mönche ausstrahlen." Er denkt kurz nach, bevor er weiterredet. "Aber es ist auch immer ein bisschen Traurigkeit darunter." Dann bindet Sagar Lama die dünn gewordenen Haare zu einem kleinen Zopf zusammen und zieht seine ausgetretenen Turnschuhe an. Es ist Zeit für die Kora.

Der Weg der Kora führt durch Tannenwälder. Zwischen den Bäumen spannen sich Gebetsfahnenschnüre, kreuz und quer wie Spinnweben. Die Hänge sind übersäht mit Mani-Steinen, bemalt mit bunten Mantras. In den Felsnischen stecken kleine Schreine, in den Ästen hängen Affen. Frühmorgens ist die Luft würzig und klar, am Abend schwer und saftig. Bergluft eben. Auf den Bänken rasten alte Herren, blinzeln in die Sonne und schauen ins Tal hinab. Ab und zu klingelt eine Glocke, wenn wieder mal ein Pilger eine der Gebetsmühlen am Wegrand angeschubst hat. Und über all dem schwebt das Kreischen der Krähen.

So ist Dharamsala, wenn der Dalai Lama nicht in der Stadt ist. Doch sobald er sich auf den Weg nach Hause macht, schwillt der Ort binnen Tagen auf das zigfache seiner Größe an. Aus aller Welt reisen die Anhänger des Friedensnobelpreisträgers an, um eine seiner Vorlesungen zu hören.

Ebbe und Flut der Besucher hängen vom Dalai Lama ab

"Unser Gästehaus ist schon Wochen im Voraus ausgebucht", erzählt Sagar Lama. "Frühmorgens stehen die Leute Schlange vor dem Kloster." Mit Kissen, Trinkflaschen und Sonnenhüten ausgerüstet warten sie zu Tausenden geduldig vor den Sicherheitsschleusen. Die meisten Besucher bekommen den Dalai Lama nur über die Großbildschirme im Innenhof zu Gesicht. "Aber das macht nichts, darum geht es nicht", sagt Sagar Lama. "Es ist eine wunderbare Stimmung, friedlich und gemeinschaftlich." Doch auch wenn der Dalai Lama nicht da ist – Touristen sind es immer: indische Reisegruppen, die den Shiva-Tempel im Nachbarort besuchen. Europäische Dalai-Lama-Fans, die ihrem Idol huldigen. Junge Rucksack-Reisende, die von hier aus zu einer der beliebten Trekkingtouren ins Gebirge aufbrechen.

Mönche und Exiltibeter, die den Tsuglagkhang und dem Kalachakra-Tempel besuchen, zwei der wichtigsten Pilgerstätten der Exiltibeter. Nur durch ein schweres Eisentor gelangt man in den Innenhof des Komplexes. An der Sicherheitsschleuse wird jeder Besucher abgetastet, alle elektronischen Geräte landen zur Aufbewahrung bei einem Mönch, der in einer Bude am Eingang hockt.

Neben dem Eingang erzählt ein kleines Museum vom Kampf der Tibeter um ihr eigenes Land, von Straßenschlachten, chinesischen Militäraufmärschen, von Karawanen an Flüchtlingen, die es über die schneebedeckten Gipfel des Himalaya nach Indien schafften. In Dharamsala warten sie seitdem, dass sie endlich zurückkehren können. Und wenn sie den Weg rund um das Kloster gehen, heben sie ihren Blick manchmal in Richtung Berge. In Richtung Heimat.

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