Er ist nicht grossgewachsen und dennoch eine Erscheinung. Sein Lachen ist herzlich und angesichts seiner 80 Jahre fast ein bisschen kindlich. Aber wenn er spricht, so ist jeder Satz überlegt und strukturiert. Er bringt mit seiner Gegenwart Hallen voller Menschen zum Verstummen, manche fallen in Ekstase, manche weinen. Andere aber, insbesondere chinesische Offizielle, bringt er in Rage. Und doch wirkt es nicht übermässig bescheiden, wie sich der Dalai Lama vorstellt, auf einem steifen Stuhl in einem Hotelzimmer sitzend: als einer von sieben Milliarden Menschen.

«Betrug an der Bevölkerung»

Eigentlich hat er ja einen Schritt zurück gemacht, vor fünf Jahren, als er ziemlich überraschend ankündigte, sich aus der Politik zurückzuziehen und die Geschäfte fortan einem gewählten Regierungschef zu überlassen. Die Entscheidung hatte durchaus historische Tragweite: Schliesslich hatte die Institution des Dalai Lama seit dem 16. Jahrhundert überlebt. Seit 2011 versucht der Jurist Lobsang Sangay als Regierungschef dem Anliegen der Tibeter für mehr Autonomie Gehör zu verschaffen – eine Aufgabe, die mit dem wachsenden Gewicht Chinas auf dem internationalen Parkett nicht leichter geworden ist.

Es ist zudem noch immer der Dalai Lama, der den Chinesen ein Dorn im Auge ist, wo er nur hinkommt. Auch neulich in Genf, als er auf Einladung der Vertretungen Kanadas und Amerikas zu einem Podium geladen war, um mit zwei anderen Nobelpreisträgern über die Rolle der Zivilgesellschaft zu sprechen. Chinesische Diplomaten hatten bis zuletzt zu verhindern versucht, dass der tibetische Mönch an der Diskussion teilnimmt. Der Auftritt des «Separatisten» verletze die Souveränität Chinas, argumentierten sie. Dafür hat der Dalai Lama nur sein spitzbübisches Lachen übrig: Die Reaktion sei sehr normal, nichts Besonderes, sagt er. «Wo mein Name fällt, da ist Protest.»

Dabei äussert er sich inzwischen tatsächlich mehr als Mönch denn als Politiker, und er legt viel Wert auf den Austausch mit der Wissenschaft. Das wird auch deutlich, wenn er sich den Fragen von Journalisten stellt. Zwar spricht er über die schwierige Situation in Tibet, wo die Repression in den vergangenen Jahren eher mehr denn weniger geworden ist. Er bezeichnet die Zensur in China als Betrug an der Bevölkerung, die das Recht habe, zu erfahren, was in der Welt wirklich los sei. Aber er kommt rasch auf die Umweltprobleme auf dem tibetischen Plateau zu sprechen, auf die buddhistische Philosophie und die Rolle der Bildung. Sein Commitment sei als Mensch und als Buddhist, sagt er, etwa für mehr religiöse Harmonie einzustehen und die tibetische Kultur. Und dennoch weiss er, das sagt er offen, dass die Hoffnungen der grossen Mehrheit der Tibeter in ihrem Kampf für mehr Autonomie noch immer auf ihm ruhen.

Trotzdem scheint es, als sei er mit seiner Revolution noch nicht am Ende. Es sei ein falscher Ansatz, zu denken, dass der Dalai Lama so wichtig sei für Tibet, sagt er. Die Institution stamme aus der Zeit des Feudalsystems, und das sei doch längst überholt. Kurz nach seinem Rückzug aus der Politik hatte der Dalai Lama bereits den Gedanken geäussert, dass er dereinst vielleicht nicht wiedergeboren werde – er also der Letzte seiner Art sein könnte. Diese Äusserung steht ohne Zweifel im Zusammenhang mit der Mitteilung der Kommunistischen Partei Chinas, bei der Nachfolge des geistigen Oberhaupts der Tibeter dereinst mitreden zu wollen. Die Entscheidung über seine Wiedergeburt, sagt der Dalai Lama im Gespräch, werde wahrscheinlich rund um seinen 90. Geburtstag fallen, und zwar nicht durch ihn alleine. Dabei sollten auch internationale Gelehrte mitreden.

Nicht alle in der Exilgemeinde sehen den von ihrem geistigen Führer angestossenen Wandel mit Wohlwollen. Es gibt auch Stimmen, die sich fragen, ob mit der sogenannten Demokratisierung nicht zu viel Energie verloren gehe und damit der Fokus von den wichtigen Anliegen der Tibeter abrücke. Kelsang Gyaltsen, der Vertreter des Dalai Lama in Europa, ist allerdings vorsichtig optimistisch, wenn er in die Zukunft blickt. Es gebe Anzeichen dafür, dass Xi Jinping dem Buddhismus zumindest nicht feindselig gegenüberstehe, sagt er. Xis Frau und auch seine Mutter seien Buddhistinnen, und Xis Vater soll den Dalai Lama gekannt haben. Auch wachse das Verständnis gebildeter Chinesen für die tibetische Kultur und den von ihnen gelebten Buddhismus. Der Dalai Lama erzählt, dass ihn 15 bis 20 Chinesen in der Woche besuchten. Dass die buddhistische Gemeinde unter den Chinesen wachse. Und er zitiert die angebliche Aussage von Chinas Staats- und Parteichef Xi, dass der Buddhismus eine wichtige Rolle in der chinesischen Kultur spiele. Das sei für jemanden in Xis Position bemerkenswert, sagt er.

Weniger Selbstverbrennungen

Doch Fakt ist: In der Tibetfrage hat sich in den vergangenen Jahren nichts getan. Schon 2010, also vor Xis Amtsantritt, ist der offizielle Kontakt zwischen Peking und der tibetischen Seite abgebrochen. In den Reihen der Exiltibeter vermutet man, dass Hardliner innerhalb der Partei Xi Jinping zurückhalten, damit nicht noch eine neue Front eröffnet wird. Der chinesische Zentralstaat treibt den Ausbau der Infrastruktur rasch voran: Es gibt neue Strassen, neue Eisenbahnlinien, immer mehr Strom. Die Behörden glaubten, die Menschen dort brauchten nur Essen, eine Unterkunft und Kleider. Doch das reiche nicht, sagt der Dalai Lama. Die verzweifelten Selbstverbrennungen, von denen es in den Jahren 2012 bis 2014 besonders viele gab, haben in jüngster Zeit zwar abgenommen. Auch der Dalai Lama hatte dazu aufgerufen, von dieser Form des Widerstands abzusehen. Vermutlich zeigen aber auch die harten Sanktionen der chinesischen Behörden ihre Wirkung: Sie bestraften die Angehörigen der Selbstmörder, indem ihnen Subventionen vorenthalten oder die Stromversorgung abgestellt wurde.

Der Widerstand, sagt Kelsang Gyaltsen, werde vor allem von den jüngeren Tibetern getragen. Das macht ihn zuversichtlich, dass dieser noch lange Bestand haben werde. In Europa allerdings, wo China in den vergangenen Jahren sein Engagement stark ausbaut, ist es für die Tibeter schwierig geworden, prominente Unterstützung zu finden. Der Dalai Lama wird in keiner Hauptstadt offiziell empfangen. Dem Regierungschef geht es nicht anders. In diesem Jahr hat er sich zum ersten Mal zur Wiederwahl gestellt. Derzeit wird noch ausgezählt, doch die Chancen stehen gut, dass Lobsang Sangay in seinem Amt bestätigt wird. Während seiner ersten Amtszeit wurde auch Kritik an ihm laut, weil er in der Tibetfrage nichts bewegen konnte. Seine Aufgabe wird nicht leichter werden. Auf die Unterstützung des Dalai Lama kann der Regierungschef zwar offiziell nicht zählen. Dass dessen Auftritte noch immer für viele Emotionen sorgen, kann dem Regierungschef allerdings nur recht sein.

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