"Aus dem Kampf eines Mannes den Kampf vieler machen"
Welt am Sonntag: Was macht ein Regierungschef ohne Land und Volk?
Lobsang Sangay: Das ist wirklich kein leichter Job. Ich bin Chef einer Verwaltung, die über keine Vollzugsbehörden verfügt. Im Vergleich zu anderen Regierungschefs kann ich weder auf staatliche Einkünfte noch auf Steuern zurückgreifen. Der Job ist eine große Herausforderung. Nicht zuletzt, weil ich vermutlich der am schlechtesten bezahlte Premier der Welt bin. Aber natürlich erfüllt mich der Dienst für mein Land mit großer Genugtuung.
Welt am Sonntag: Wie sieht Ihr Kabinett aus?
Lobsang Sangay: Ich habe sechs Minister nominiert. Und das Parlament hat sie alle bestätigt. Fünf von ihnen sind unter 50, zwei der Minister sind Frauen. Eine ist für die Außenpolitik verantwortlich. Vorher hat sie in Kanada als PR-Beraterin gearbeitet, und statt Milliardenprojekte zu leiten, verdient sie jetzt einige Hundert Dollar.Welt am Sonntag: Sie holen sich Ihre Regierungsmitglieder vor allem aus den USA. Wie reagiert die tibetische Gemeinde in den Flüchtlingscamps darauf?
Lobsang Sangay: Dass da zunächst ein wenig Zurückhaltung herrscht, ist doch ganz normal. Der Gesundheitsminister zum Beispiel ist 37 Jahre alt – einige Mitarbeiter im Ministerium sind ungefähr so lange im Dienst. Wenn auf einmal junge Leute ohne Erfahrung das Kommando übernehmen, braucht das eben seine Zeit. Aber ich glaube daran, dass sich Tradition und Moderne verbinden lassen. Wir müssen nur den Dialog suchen.
Welt am Sonntag: Anders als der Dalai Lama und Ihr Vorgänger haben Sie nie in Tibet gelebt. Wie halten Sie den Kontakt zu den Menschen dort?
Lobsang Sangay: Jedes Jahr fliehen Hunderte, manchmal Tausende Tibeter, natürlich halten uns deren Berichte auf dem Laufenden. Außerdem telefonieren wir mit unseren Verwandten, und auch wenn man nicht offen sprechen kann, erfahren wir doch das Wichtigste. Wir benutzen Codewörter.
Welt am Sonntag: Ist die tibetische Kultur in Tibet trotz chinesischer Dominanz und Repressionen noch lebendig?
Lobsang Sangay: Unbedingt! Sie ist sehr lebendig, allein die Proteste und Selbstverbrennungen der Mönche zeigen das. Als Tibet 1951 zum ersten Mal überfallen wurde, versprachen die Chinesen ein sozialistisches Paradies. Einige Tibeter haben das sogar geglaubt. Aber jene, die jetzt auf die Barrikaden gehen, sind alle unter chinesischer Besatzung groß geworden und sie haben Seine Heiligkeit noch nie persönlich kennengelernt. Obwohl sie wissen, dass sie damit mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit Haft und Folter riskieren, gehen sie auf die Straße.
Welt am Sonntag: Befürworten Sie die Proteste?
Lobsang Sangay: Keineswegs. Dafür sind die Folgen zu vorhersehbar. Wie könnte ich andere zum Protest ermutigen, wenn nicht ich, sondern sie unter den Konsequenzen leiden oder gar sterben müssen?
Welt am Sonntag: Was heißt das für Ihren Umgang mit China?
Lobsang Sangay: Einerseits müssen wir weiter um unsere Freiheit kämpfen – egal, wie lange das dauern wird. Andererseits müssen wir auch auf die Chinesen zugehen. Tatsächlich habe ich die vergangenen 16 Jahre schon genau das getan: Ich habe mich in Harvard mit Hunderten Studenten und Wissenschaftlern aus China getroffen, außerdem sieben große Konferenzen organisiert. Ich hätte das nicht tun müssen, zumal die Begegnung mit Chinesen in der Regel keine angenehme Erfahrung ist. Viele von ihnen sind ignorant und nationalistisch.
Welt am Sonntag: Wie kommen Sie darauf?
Lobsang Sangay: Sie glauben nicht, mit welchen Fragen mich manche Chinesen schon konfrontiert haben. „Wir haben euch friedlich befreit – weshalb seid ihr nicht dankbar?“ Wenn ich dann wissen will, woher sie ihre Informationen haben, verweisen sie auf die chinesischen Medien. Auf Rückfrage bestätigen sie mir dann, dass sie diesen Medien bei innenpolitischen Fragen nur die Hälfte dessen glauben, was geschrieben steht oder im Fernsehen kommt. Welchen Teil der Tibet-Berichterstattung sie für falsch halten, mit dieser Frage lasse ich meine Gesprächspartner dann meistens verwirrt zurück…
Welt am Sonntag: Viele junge Tibeter verlieren die Geduld mit dem gewaltfreien Kampf. Vergleicht man ihn mit jenem der Palästinenser, gewinnt man den Eindruck, dass Terror weiter führt auf dem Weg zum eigenen Staat als Gewaltverzicht. Lobsang Sangay: Die Palästinenser sind da, wo sie heute sind, weil sie auf die Unterstützung ölreicher arabischer Staaten zählen können. In der Generalversammlung der Vereinten Nationen stehen die Araber und ihre Ölkunden hinter den Palästinensern. Wir hingegen haben kein Öl, sondern nur Mönche. Und trotzdem ist unsere Bewegung noch am Leben und findet weltweit Beachtung.
Tatsächlich glaube ich, dass ein Teil unseres Erfolgs genau darin besteht, dass wir auf Gewalt und Terror verzichten. Waffen sprechen zu lassen ist der einfachste Ausweg. Aber in unserem Fall ist das ein aussichtsloses Unterfangen: Hier stehen sechs Millionen Tibeter 1,2 Milliarden Chinesen gegenüber...
Welt am Sonntag: Wenn Sie gegen jede Form von Gewalt sind, sollten Sie dann nicht entschlossener gegen die Selbstverbrennung von Mönchen auftreten?
Lobsang Sangay: Der Dalai Lama und ich haben uns schon mehrfach gegen die Selbstverbrennungen ausgesprochen. Aber ich bin selbst kein Mönch und will mir kein Urteil erlauben. Wichtig ist: Mit ihrem Tun schaden sie niemandem außer sich selbst. Es handelt sich um traurige Verzweiflungstaten, für die einzig und allein die Chinesen verantwortlich sind. Die Besetzung treibt die Mönche dazu!
Das Einzige, was diese Verzweiflungstäter wirklich aufhalten könnte, sind klare Worte seitens der internationalen Gemeinschaft. Die Menschen in Tibet müssen das Gefühl haben, dass sie gehört werden, dass man ihre Lage versteht – und bereit ist, für sie einzutreten. Das bedeutet auch, dass die internationalen Staatschefs bei Treffen mit der chinesischen Regierung die Tibet-Frage explizit ansprechen müssen.
Welt am Sonntag: Sie kommen gerade aus den USA, jetzt besuchen Sie Europa. Worin unterscheiden sich diese Stationen?
Lobsang Sangay: In den USA werden wir auch von Regierungsmitgliedern empfangen. Das verärgert die Chinesen sehr. Bevor wir in die USA aufgebrochen sind, wurde einer unserer Computer gehackt, sensible Informationen wie beispielsweise unser Reiseprogramm wurden publik gemacht. Obwohl ein Teil meiner Delegation sehr besorgt um unsere Sicherheit war, wollte ich mich nicht von den Chinesen einschüchtern lassen – und wir haben die Reise wie geplant durchgeführt.
Welt am Sonntag: Woher wissen Sie, dass die Chinesen dahinterstecken?
Lobsang Sangay: Wir haben später die Wanze gefunden. Namhafte US-Politiker wie John McCain oder Nancy Pelosi haben uns den Rücken gestärkt, und wir haben sogar noch mehr Leute getroffen als geplant. Das war ein starkes Signal an uns Tibeter – und an die Chinesen. Natürlich ist die Ausgangslage in Europa eine andere. Auch die Europäer haben uns so weit unterstützt, wie sie eben konnten.
Welt am Sonntag: Heißt das, der Handlungsspielraum der Europäer in der Finanzkrise sei beschränkt, weil die Abhängigkeit von den Chinesen gestiegen ist?
Lobsang Sangay: Es liegt im Ermessen der europäischen Regierungen, wie viel Einfluss sie geltend machen wollen bei den Chinesen. Ich bin glücklich darüber, von zahlreichen Mitgliedern des Deutschen Bundestags empfangen worden zu sein.
Welt am Sonntag: Welche Ziele verfolgen Sie in den nächsten fünf Jahren Ihrer Amtszeit?
Lobsang Sangay: Mein zentrales Anliegen ist die Übergabe der Macht von einer Generation an die nächste. In meinem Fall bedeutet das die Übertragung der Verantwortung von Seiner Heiligkeit an mich. Die Chinesen sagen, der tibetische Kampf hänge einzig und allein am Dalai Lama. Sie gehen davon aus, dass die Bewegung nach dem Tod des Dalai Lamas im Sand verlaufen wird. Aber das stimmt nicht: Wir sind keine One-Man-Show.
Meine Aufgabe ist es, das zu verhindern. In einem weiteren Schritt wird es dann eines Tages in meiner Verantwortung liegen, die nächste Generation mit dem Kampf zu betrauen. Ich muss also aus dem Kampf eines Mannes den Kampf vieler machen.
Welt am Sonntag: Der Dalai Lama bleibt allerdings der Übervater dieses Kampfes, oder?
Lobsang Sangay: Wir zweifeln keineswegs daran, dass Seine Heiligkeit die Hauptstimme und das Gesicht der tibetischen Freiheitsbewegung ist. Uns ist nur wichtig, dass die Chinesen am Ende nicht recht behalten, wenn sie sagen: Stirbt der Dalai Lama, stirbt auch die Bewegung. Seine Heiligkeit wird immer eine herausgehobene Stellung für das tibetische Volk behalten. Aber er hat viel für die Zeit nach ihm getan.
Unsere Exilführung demokratischer zu gestalten, war von jeher sein Ziel. Er hat damit schon in den 50er-Jahren begonnen, als er ein Parlament einführte. Später trieb er ein Gesetz voran, das seine eigene Absetzung als weltlicher Herrscher möglich macht. Über die vergangenen 50 Jahre haben die Tibeter in Demokratie investiert. Ich selbst bin ein Produkt dieser Strategie. Die Botschaft an Peking ist klar: Es ist nicht der Kampf eines Einzelnen, er wird weitergehen, wenn Seine Heiligkeit von uns geht.
Welt am Sonntag: Den Tod des Dalai Lamas überhaupt zu thematisieren, ist etwas Ungewöhnliches für einen Tibeter. Handeln Sie in seinem Auftrag?
Lobsang Sangay: Er hat genau das gesagt, bei meiner Amtseinführung. Die Übergabe der Verantwortung ist sein lange gehegter Plan. Er spricht ja sogar davon, dass seine geistige Wiedergeburt einer Ernennung seines Nachfolgers weichen könnte...
Welt am Sonntag: Aber das würde einen Bruch mit den Traditionen bedeuten. Seit dem 16. Jahrhundert wird erst, wenn der Dalai Lama verstorben ist, der neue gesucht – es ist ja seine Wiedergeburt.
Lobsang Sangay: Das stimmt, bezieht man sich auf die Tradition der letzten 14 Dalai Lamas. Aber das gilt nicht für die buddhistische Tradition an sich. Einige der größten Lamas des 20. Jahrhunderts wurden ernannt – ein durchaus gängiger Brauch im Buddhismus.
Welt am Sonntag: Das klingt nach einer groß angelegten Strategie. Die Tibeter können sich im Kampf für ihre Unabhängigkeit kein Machtvakuum von 20 Jahren leisten, in denen der wiedergeborene Dalai Lama heranwächst...
Lobsang Sangay: Der Glaube und die Treue der Tibeter Seiner Heiligkeit gegenüber sind absolut. Wenn er selbst einen Nachfolger bestimmt, werden wir seine Entscheidung respektieren. Abgesehen davon: Wer könnte besser als er selbst seinen Nachfolger auf die Rolle vorbereiten?
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