In meinen Träumen werde ich 113 Jahre alt
Tibet sei immer "mysteriös" geblieben, sagt der Dalai Lama, und das wohl sogar ein wenig für ihn. Denn seit das spirituelle Oberhaupt der Tibeter 1959 vor den Chinesen aus seiner Heimat ins indische Dharamsala floh, ist er von Augenzeugen-Berichten abhängig, wenn er etwas über seine Heimat erfahren will.
Seine Neugier ist bis heute groß geblieben. Er versucht, jeden Flüchtling, der es über den Himalaja ins Ausland schafft, einmal persönlich zu treffen. Gern dreht er deshalb auch mal die übliche Rollenverteilung im Interview um: Er antwortet nicht, sondern stellt die Fragen. So beginnt auch das Gespräch, zu dem der Dalai Lama den Fotografen York Hovest und Reporter Jörg Eigendorf in seiner Residenz im indischen Dharamsala empfängt, wo er seit Langem im Exil lebt.
Er befragt Hovest ausführlich über dessen abenteuerliche Reisen durch Tibet. Es geht vor allem um die Eindrücke, die Ausländern und auch Einheimischen üblicherweise verwehrt bleiben.
Seite für Seite blättert der Dalai Lama durch den Bildband "Hundert Tage Tibet", den Hovest aus seinen Reisen gemacht und dem Dalai Lama als Geschenk mitgebracht hat. Die Fotos führen den Dalai Lama weit zurück in seine Vergangenheit – bis in eine Zeit, als er sich immer in das Haus seiner Mutter in Lhasa schlich, um Ei und Schwein zum Essen zu bekommen.
Als der Dalai Lama das Buch schließlich zur Seite legt, kommt er ohne Umschweife zur Sache. Er sagt Erstaunliches über die chinesische Tibet-Politik, den russischen Präsidenten und die Frage, ob Tibet denn einen Nachfolger für ihn selbst haben sollte.
Welt am Sonntag: Sie leben seit vielen Jahrzehnten im Exil. Glauben Sie, dass Sie eines Tages in Ihr Heimatland Tibet zurückkehren können?
Dalai Lama: Ja, davon bin ich fest überzeugt. China kann sich nicht mehr abschotten, es muss auf seinem Weg zu einer demokratischen Gesellschaft voranschreiten. 1,3 Milliarden Chinesen haben das Recht, die Wahrheit zu erfahren. Wenn diese 1,3 Milliarden Chinesen die Realität erkennen, werden sie die Fähigkeit haben, einzuschätzen, was richtig und was falsch ist. Zensur ist unmoralisch. Ich habe festgestellt: Vor einigen Jahren, immer wenn ich chinesische Studenten kennengelernt habe, waren sie ernst und zurückhaltend. Dann verging die Zeit. Und wenn ich heute ein paar Hundert chinesische Studenten treffe, dann lächeln alle von Anfang an. Das sind Zeichen des Wandels.
Welt am Sonntag: Ist das der Grund, warum Sie seit einigen Monaten geradezu versöhnlich gegenüber China geworden sind – der Besatzungsmacht Ihres Heimatlandes?
Dalai Lama: Unter dem Staatspräsidenten Xi Jinping hat eine neue Ära begonnen. Er möchte eine harmonischere Gesellschaft schaffen als jene, die es unter seinem Vorgänger Hu Jintao gab. In dessen Ära ging es vor allem um wirtschaftliches Wachstum, das hat viel Missgunst und Neid geschaffen. Jetzt geht es um eine gerechtere, harmonischere Gesellschaft.
Welt am Sonntag: Und was hat Tibet als sogenannte Autonome Region innerhalb Chinas davon?
Dalai Lama: Wer eine harmonischere Gesellschaft will, kann diese nicht auf Gewalt und Unterdrückung aufbauen. Harmonie kommt vom Herzen, sie basiert auf Vertrauen. Das wird Tibet helfen.Harmonie und Misstrauen sind Antipoden.
Welt am Sonntag: Wie tibetisch ist Tibet nach all den Jahren unter fremder Herrschaft überhaupt noch?
Dalai Lama: Den Chinesen ist es nicht gelungen, unsere Kultur zu zerstören, die 3000 bis 4000 Jahre alt ist. Wer den Glauben und die Kultur Andersdenkender kritisiert, der macht sie nur stärker. Im tiefsten Inneren denken und fühlen 95 Prozent der Tibeter sehr tibetisch – und sind stark ihrer Kultur verbunden. Das gilt auch für jene, die für die Chinesen arbeiten.
Welt am Sonntag: In aller Kürze: Was bedeutet, tibetisch zu denken und fühlen?
Dalai Lama: Das heißt im Kern, den tibetischen Buddhismus zu praktizieren und zu verinnerlichen. Das ist die Lehre von Mitgefühl und Weisheit, basierend auf Intelligenz und gegenseitiger Abhängigkeit voneinander. Wir glauben an die Wiedergeburt über mehrere Leben hinweg, bis wir die Erleuchtung erlangen.
Welt am Sonntag: Wenn 95 Prozent der Tibeter so denken und fühlen, dann muss Ihnen ja um die tibetische Kultur nicht bange sein.
Dalai Lama: Doch, wir haben da ein großes Problem: Ohne richtige Lehrer und ohne die richtige Ausbildung ist das sehr schwierig. Vor 1959 (vor der Flucht des Dalai Lama aus China, Anmerkung der Red.) gab es hervorragende Gelehrte in Tibet. Die meisten wurden aber verhaftet, manche getötet, manche sind geflohen.
Welt am Sonntag: Das heißt, es gibt keine guten Gelehrten mehr in Tibet, die Mönche ausbilden können?
Dalai Lama: Inzwischen haben wir einige Mönche ausgebildet, die wieder nach Tibet zurückgekehrt sind. Aber das ist selten. Die Gefahr ist, dass Religion zum bloßen Ritual wird. Nur "tang, tang, tang" mit einer Glocke machen, das ist es nicht. Mönche müssen die Lehre und die Meditation beherrschen. Und dafür bedarf es der gründlichen Ausbildung.
Welt am Sonntag: Was macht Sie eigentlich so sicher, dass der aktuelle chinesische Präsident Xi Jinping es ernst meint mit dem begonnenen Wandel – und dass das für Tibet etwas Gutes bedeutet?
Dalai Lama: Er kämpft entschlossen gegen Korruption, also gegen eine der Quellen von Misstrauen. Xi Jinping ist mutig, er hat sich viele Feinde unter den alten Kadern geschaffen. Einige hochrangige chinesische Beamte sind bereits festgenommen worden. Und der Präsident denkt ernsthaft über Werte nach. Außerdem hat er bei seinem Besuch in Paris im März dieses Jahres den Buddhismus als einen wichtigen Teil der chinesischen Kultur bezeichnet.
Welt am Sonntag: Also können die Buddhisten eine wichtige Rolle beim Wandel Chinas spielen?
Dalai Lama: (Der Dalai Lama spricht plötzlich mit hoher Stimme, wie er es immer tut, wenn er sehr ernst wird) Vielleicht. Wenn der Führer der Kommunistischen Partei etwas Positives über Buddhismus sagt, dann ist das auf jeden Fall etwas Neues. Er hat Buddhisten in der Familie, seine Mutter praktiziert sogar den tibetischen Buddhismus. Und viele Chinesen sind von unserer Religion fasziniert.
Welt am Sonntag: Dass sich der Dalai Lama eines Tages so positiv über einen chinesischen Präsidenten äußern würde, überrascht. In Ihrer Heimat verbrennen sich immer noch Menschen, und gegen die Menschenrechte wird immer noch eklatant verstoßen.
Dalai Lama: Ja, das ist schrecklich, es ist schlimm. Und es schmerzt, das sehen zu müssen. Aber wir müssen akzeptieren, dass Tibet immer in Nachbarschaft zu China sein wird. Ein Land kann ja nicht einfach umziehen. Wir haben zwar heute noch eine schlechte Beziehung zu unserem Nachbarn China, aber das wird nicht für immer andauern. Ich hoffe auf den Wandel dort, der auch von außen ins Land getragen wird. Es ist deshalb gut, dass China in die Weltwirtschaft integriert wurde. Das habe ich immer so gesagt. Jetzt geht es darum, dass die moderne Weltgemeinschaft China dabei unterstützt, ein demokratisches Land zu werden – mit Menschenrechten, mit Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit. Integration ist gut, sie wird auch Tibet nutzen.
Welt am Sonntag: Sie befürworten die Integration Chinas in die Weltpolitik, obwohl Ihr Volk weiterhin von Chinesen unterdrückt wird. Befürworten Sie auch, ein Land wie Russland einzubinden, das nun die Ukraine angreift?
Dalai Lama: Das ist ein heikles Thema. Herr Putin war erst Präsident, dann Premierminister, dann wieder Präsident. Das ist ein bisschen zu viel. Es zeigt, dass er eine sehr egozentrische Einstellung hat: "Ich, ich, ich!" (Der Dalai Lama klopft sich auf die Brust) Das ist eigentlich der Ursprung des Problems.
Welt am Sonntag: Das ist die Sicht Außenstehender. In Russland selbst ist Putin sehr beliebt.
Dalai Lama: Verwundert Sie das? In den vergangenen sechs, sieben Jahrzehnten ist den Russen ständig das Gehirn gewaschen worden. "Der Westen wird Russland nie lieben." "Wenn Russland schwach wird, dann wird es von der Nato attackiert." Und als sich Russland dann in den 90er-Jahren geöffnet hat, blieb der Westen auf Distanz. Das hat das Misstrauen weiter verstärkt.
Welt am Sonntag: Was heißt das für die aktuelle Situation? Russland integrieren oder isolieren?
Dalai Lama: China und Russland – das sind zwei sehr unterschiedliche Fälle. China will Teil des globalen politischen Systems werden und wird auf Dauer bereit sein, die internationalen Spielregeln zu akzeptieren. Den Eindruck habe ich bei Russland und Präsident Putin im Moment nicht. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass die Berliner Mauer gefallen ist. Jetzt scheint Präsident Putin sie wieder bauen zu wollen. Aber damit schadet er seinem eigenen Land. Isolation ist Selbstmord für Russland.
Welt am Sonntag: Im Moment gibt es eine heftige Diskussion darüber, was die geeigneten Gegenmaßnahmen gegen die Aggression eines anderen Staates sind – in diesem Fall Russland. Darf man Ihrem Verständnis nach mit Gewalt drohen oder sie sogar anwenden?
Dalai Lama: Theoretisch schon. Nehmen wir das Beispiel der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki: Das war schlimm, das war traurig. Die Bomben haben mehr als 200.000 Menschen getötet. Dafür war der Krieg vorbei und hat möglicherweise noch viel mehr Japanern und Amerikanern das Leben gerettet. Aber war das vorhersagbar? Können Politiker so klar denken – frei von Emotionen rational entscheiden? Ich denke nein, das kann niemand. Auch deshalb sollte man davon absehen, Gewalt anzuwenden.
Welt am Sonntag: Sie haben viel erlebt, viele Politiker hautnah kennengelernt, und das über Jahrzehnte. Ist die Welt gefährlicher geworden, oder scheint das derzeit nur so zu sein, weil es so viele Krisenherde und Kriege gibt?
Dalai Lama: In diesem Jahr sind besonders viele unschuldige Menschen gestorben, das empfinde ich auch so. Dabei sollte dieses Jahrhundert ein Jahrhundert des Dialogs sein. Das gilt für Russland und die Ukraine genauso wie für Israel und Gaza. Wir dürfen nie vergessen, dass wir aufeinander angewiesen sind, wenn wir in Frieden leben wollen. Man kann den anderen nicht einfach wegbomben, das funktioniert nicht.
Welt am Sonntag: Sie sind nun 79 Jahre alt. Sie haben kürzlich gesagt, dass Sie es dem tibetischen Volk überlassen, ob es einen neuen Dalai Lama geben wird. Können Sie sich vorstellen, dass Sie gar keinen Nachfolger haben werden?
Dalai Lama: Ja, das kann ich sehr wohl. Die Institution des "Dalai Lama" wurde zu etwas Wichtigem wegen der politischen Macht. Diese gibt es heute nicht mehr. Ich bin seit 2011 komplett pensioniert. Damit enden auch fast fünf Jahrhunderte der Dalai-Lama-Tradition – und das geschieht freiwillig. Politisch denkende Menschen müssen daher einsehen, dass die rund 450 Jahre währende Institution des Dalai Lama ausgedient haben sollte.
Welt am Sonntag: Aber ist nicht Ihre Spiritualität viel wichtiger als die ohnehin limitierte Macht als Führer der tibetischen Exilregierung?
Dalai Lama: Der tibetische Buddhismus ist nicht abhängig von einem Individuum. Wir haben eine sehr gute Organisation mit hervorragend ausgebildeten Mönchen und Gelehrten. Wir haben in den vergangenen fünf Jahrzehnten Schritt für Schritt eine starke Gemeinschaft hier in Indien aufgebaut.
Welt am Sonntag: Also brauchen die Tibeter Ihrer Ansicht nach keinen Dalai Lama mehr?
Dalai Lama: Ich sage manchmal im Scherz: Die Dalai-Lama-Institution gab es nun fast fünf Jahrhunderte lang. Jetzt kann diese Tradition mit dem 14. Dalai Lama aufhören, der ziemlich beliebt ist. Wenn der 15. Dalai Lama käme und Schande über das Amt brächte, würde sich die Dalai-Lama-Institution am Ende blamieren.
Welt am Sonntag: Das heißt, wir haben einen Dalai Lama nur noch so lange, wie Sie leben. Wie alt wollen Sie werden?
Dalai Lama: Laut den Ärzten, die meine physische Kondition geprüft haben, werde ich 100 Jahre alt. Laut meinen Träumen werde ich 113 Jahre alt. Aber 100 sind, denke ich, sicher.
Welt am Sonntag: Sie haben darüber gesprochen, dass Sie Ihre Wiedergeburt beeinflussen können.
Dalai Lama: Eines meiner täglichen Lieblingsgebete ist, dass ich bleibe, solange das Leid fühlender Wesen auf der Welt bleibt. Das heißt nicht im gleichen Körper, aber als Geist und Seele.
Welt am Sonntag: Es heißt, wer die Erleuchtung erreicht hat, kehrt nicht zurück.
Dalai Lama: Der erste Dalai Lama wurde 80 Jahre alt. Seine Schüler sagten ihm, dass er bereit sei, in eine himmlische Ebene weiterzuziehen. Der erste Dalai Lama antwortete, er habe nicht den Wunsch, in eine himmlische Ebene zu ziehen. Er wolle an einem schwierigen Ort wiedergeboren werden, an dem er von Nutzen sein kann. Darum bete ich auch.
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