Ratschläge für den spirituellen Weg

Seiner Heiligkeit der Dalai Lama

In allen buddhistischen Traditionen ist die Zufluchtnahme ein wesentlicher Bestandteil der Praxis. Buddhisten nehmen Zuflucht zu den Drei Juwelen Buddha, Dharma und Sa‡gha. In welcher Reihenfolge werden diese verwirklicht? Im Praktizierenden entsteht zuerst das Dharma-Juwel, indem er die Wahren Pfade entwickelt und die Wahren Beendi-gungen erlangt, die den eigentlichen Dharma ausmachen. Dadurch wird die Person zum Mitglied der Geistigen Gemeinschaft, dem Sa‡gha-Juwel. Verfolgt die Person den Pfad weiter, indem sie alle Hindernisse des Geistes auf-gibt und alle Tugenden vervollkommnet, wird sie zu einem Buddha-Heiligen und damit zum Zufluchtsobjekt Buddha. Betrachten wir die Reihenfolge der Entstehung in Bezug auf die Verbreitung der Lehre, so existiert zuerst ein Buddha, der die Lehre unterrichtet, wobei es sich zunächst um den verbalen Dharma handelt. Dadurch, daß die Schüler die Lehre in sich aufnehmen und verwirklichen, entsteht in ihrem Geist der erkenntnismäßige Dharma, und die Personen werden zu Mitgliedern der Geistigen Gemeinschaft. Es gibt niemanden, der schon immer ein Buddha war. Wer die Erleuchtung anstrebt, ist ein Lernender und muß einen spirituellen Pfad durchlaufen. Am Ende wird er zu einem Nicht-Mehr-Lernenden, einem Buddha.

Wie macht man Fortschritte auf dem buddhistischen Pfad? Der eigentliche Pfad ist der Pfad eines Heiligen. Ein Heiliger hat mit seiner direkten Einsicht in die endgültige Realität – die Leerheit – eine unbefleckte Weisheit erlangt. Um einen unbefleckten Geisteszustand zu erreichen, muß man zunächst aus dem gewöhnlichen Zustand heraus mit großem Bemühen Mittel des Dharma anwenden und Hindernisse aus dem Weg räumen. Die Tugenden eines Heiligen lassen sich unter zwei Gesichtspunkten verstehen: erstens unter dem Aspekt der Beendigung von Hindernissen, zweitens unter dem Aspekt der Erkenntnis, die der Heilige verwirklicht hat. Wir sind im Moment nicht in der Lage, die Hindernisse und Täuschungen in unserem Geist endgültig aufzugeben, aber wir können Vorbereitungen dafür treffen, daß dies irgendwann möglich wird. Wir beginnen also damit, grobe Hindernisse zu beseitigen. Ebenso besitzen wir im Moment nicht die Mittel, vollständige Erkenntnisse eines Heiligen hervorzubringen, aber wir können jetzt anfangen und unserer geistigen Stufe entsprechend Tugenden und Erkenntnisse entwickeln, aus denen heraus dann später die vollendeten Qualitäten eines Heiligen, das heißt die wahren Pfade, entstehen. Diese Praxis läßt sich in den Drei Höheren Schulungen zusammenfassen, der Schulung von Ethik, Konzentration und Weisheit.

Dazu hat der indische Meister Aryadeva sinngemäß folgende Anweisung gegeben: Im ersten Schritt geht es darum, unheilsame Handlungen, die zu einer Wiedergeburt in einem niedrigen Daseinsbereich führen, zu unterlassen. Im Weiteren gilt es, die falsche Ansicht eines Selbst aufzugeben. Zuletzt muß man alle Anlagen von Unwissenheit, die die falsche Ansicht eines Selbst im Geist hinterlassen hat, überwinden. So gibt es drei Ebenen der Praxis, wobei es verschiedene Interpretationen gibt, was diese drei Ebenen bedeuten. Atïoea hat in der Schrift „Die Lampe auf dem Pfad“ eine Einteilung in die Übungen der drei Praktizierenden vorgenommen: des anfänglichen, mittleren und des höchsten Praktizierenden. Am Anfang muß das Verständnis aus dem Hören entwickelt werden. Dazu benötigt man Erklärungen eines qualifizierten Lehrers zu den Dharma-Inhalten. Im zweiten Schritt denkt man über die Erklärungen immer wieder nach, dringt tief in sie ein und führt sich die Begründungen vor Augen. Wenn man zu bestimmten Einsichten gelangt ist, sollte man diese mit Hilfe einer konzentrativen Meditation stabilisieren. Die Kontemplation, bei der sich analytische und konzentrative Meditation gegenseitig stützen, ist die Basis für ein tieferes Verständnis dessen, was man zuvor gehört und gelernt hatte. So entsteht auf der zweiten Ebene das Verständnis aus dem Nachdenken. Als drittes übt man die Erkenntnisse in der Meditation ein und vertieft sie, so daß man echte spirituelle Erfahrungen macht. Dadurch entwickelt sich das Verständnis aus der Meditation.

Immer ist es das Ziel, Erkenntnisse zu entwickeln, wobei es verschiedene Stufen gibt. Zuerst muß man verkehrte Ansichten über den Dharma, über die Pfade und Beendigungen etc. überwinden. Mittels der Logik führt man sich vor Augen, welche logischen Widersprüche sich aus den falschen Ansichten ergeben und warum sie nicht im Einklang mit der Wirklichkeit stehen. So entsteht ein Zweifel, der an den eigenen falschen Auffassungen rüttelt. Mit Hilfe des Zweifels erkennt man, daß die Dinge nicht so sind, wie man dachte, ohne jedoch eine genaue Kenntnis darüber zu haben, wie es sich wirklich verhält. Hört man dann weitere Erklärungen, studiert die Schriften und untersucht den Sachverhalt weiter, entsteht eine korrekte Vermutung. Zwar hat man noch keine Gewißheit, wohl aber eine Auffas-sung, die sich der Wirklichkeit annähert. Man denkt intensiv weiter darüber nach, erwägt die verschiedenen Begrün-dungen und Gegenargumente, bis schließlich eine gültige Schlußfolgerung entsteht. Sie ist eine unerschütterliche, verläßliche Erkenntnis eines Sachverhalts, die auf korrekten Begründungen beruht. Nun besitzt man Gewißheit in Form dieser schlußfolgernden Erkenntnis, die aber noch mit begrifflichem Denken verbunden ist. Übt man diese gültige Schlußfolgerung in der Mediation ein und verbindet sie mit punktförmiger Konzentration, entwickelt sich daraus allmählich eine direkte geistige Einsicht, die man eine unmittelbar wahrnehmende gültige Erkenntnis nennt. Sie ist frei von Begriffen.

Um die verkehrten Ansichten in einen Zweifel umzuwandeln, formuliert man sogenannte Konsequenzen, die die Widersprüche einer solchen Ansicht aufzeigen. Um den Zweifel in eine korrekte Erkenntnis zu transformieren, stützt man sich auf Beweise, auf Schlußfolgerungen. Es ist wichtig, diese beiden Arten der Beweisführung anzuwenden: die Konsequenzen und die Beweise. Die Mittel der Logik sind von großen indischen Meistern wie Dharmakïrti und Dignāga ausführlich dargelegt worden. Die Konsequenzen dienen der Widerlegung verkehrter Ansichten, die Beweise oder korrekten Argumente dienen der Darlegung des eigentlichen Sachverhalts. Diese Mittel der Logik sind nicht für andere gedacht, d. h. dazu, Disputationen vom Zaun zu brechen, um andere zu überzeugen und ihre falschen Ansichten vorzuführen, sondern für den eigenen Geist. Es geht darum, verkehrte Ansichten bei sich selbst zu überwinden und korrekte Erkenntnisse zu entwickeln. Und so findet im eigenen Geist eine innere Disputation statt, in der die richtigen Erkenntnisse gegen die Unwissenheit antreten. In Shāntidevas Bodhicaryāvatāra beispielsweise gibt es ein Kapitel über die Sammlung. Darin debattiert man mit seinen eigenen negativen Emotionen wie Selbstsucht usw. In dem inneren Disput tritt die Selbstsucht mit ihren fadenscheinigen Argumenten gegen den Altruismus an, der beweisen will, daß die Selbstsucht ein unangemessenes Verhalten ist.

Es ist sehr wichtig, durch das Hören und Lernen Unklarheiten in bezug auf den Dharma zu beseitigen und korrekte Erkenntnisse zu erlangen. Ohne das Studium wird man dazu nicht in der Lage sein. Dann wird auch die Meditation nicht wirklich gelingen. Man mag zwar Vertrauen in die Lehre des Buddhas haben, ohne ein fundiertes Wissen jedoch hört man das, was gerade jemand sagt und denkt „Das wird schon richtig sein“. Später behauptet eine weitere Person etwas anderes, der man dann auch folgt. Hat man nicht die Unklarheiten im eigenen Geist überwunden, können keine stabilen Erkenntnisse entstehen, und wir können nicht entschlossen meditieren. Unser Geist ist dann wie ein Fähnchen im Wind.

Natürlich kann das Studium negative Wirkungen nach sich ziehen. Es ist möglich, daß eine Person durch ihr Wissen stolz und überheblich wird. Statt Tugenden wie Bescheidenheit zu kultivieren, fördert sie negative Faktoren wie Stolz und Arroganz. Dies ist so, als würde sie eine Medizin in Gift verwandeln. Sie macht den Dharma zu Gift. Angesichts solcher Gefahren sollten wir jedoch nicht den falschen Schluß ziehen, das Studium sei zu vernachlässigen und die Praxis das Wichtigste. Wie soll eine solche Dharma- Praxis aber beschaffen sein? Ohne echte Kenntnis des Dharma ist man darauf beschränkt, auf Ansichten zu beharren, statt echte, tiefe Einsichten zu erlangten. Es entsteht der Gedanke: „Das sind also die Drei Juwelen“, aber diese Erkenntnis hat keinen echten Geschmack. Man ist nicht in der Lage, die Dharma-Praxis von den verschiedenen Gesichtspunkten her zu beleuchten und begnügt sich mit einem sehr oberflächlichen Verständnis. Dann versucht man, quasi gewaltsam meditative Erfahrungen zu machen, und es ist fraglich, ob ein solches Vorgehen gute Früchte trägt. Deshalb sagt ein tibetisches Sprichwort: „Die Gelehrsamkeit soll nicht das edle Verhalten schädigen, und das edle Verhalten soll nicht die Gelehrsamkeit schädigen.“ Wir benötigen beides, das Wissen im Dharma und Verwirklichungen durch die Praxis. Wir sollten anstreben, Gelehrte zu werden, die ein tiefes Verständnis des Dharma besitzen, und gute Praktizierende zu sein, die das Gelernte anwenden und zu verwirklichen versuchen. Auch sollte die Qualität des guten Herzens dazukommen. Wenn wir Gelehrsamkeit und ethisch einwandfreies Verhalten nur zum eigenen Vorteil nutzen, so spricht dies auch nicht für einen echten Fortschritt unserer spirituellen Entwicklung. Ein gutes Herz und Mitgefühl sind der Kern unserer Praxis.

In punkto Hören und Lernen ist es wichtig, daß wir selbst Schriften lesen und studieren. Zudem müssen wir Erklärungen über die Themen erhalten, mit denen wir uns beschäftigen – und zwar von einer Person, die Erfahrungen auf dem Pfad hat. So laufen wir nicht Gefahr, bloßes theoretisches Wissen anzuhäufen. Ein qualifizierter Lehrer ist wichtig, damit wir Wissen aus erster Hand erwerben können. Der Buddha hat im Rahmen der Bodhisattva-Übungen zehn Vollkommenheiten gelehrt. Sechs Übungen dienen hauptsächlich dazu, den eigenen Geist zur Reife zur bringen: Freigebigkeit, Ethik, Geduld, Tatkraft, Konzentration und Weisheit. Vier weiter sind Mittel, Schüler um sich zu sammeln. Sie werden benötigt, um den Geist anderer zur Reife zu bringen. Es ist das Geben von materiellen Gaben an die Schüler, das Erteilen gut verständlicher Unterweisungen, das Ermahnen der Schüler, die Belehrungen auch zu praktizieren. Der vierte Punkt ist in unserem Zusammenhang sehr wichtig: Der Lehrer muß sich selbst entsprechend den Anweisungen verhalten, die er anderen gibt. Der Buddha Shākyamuni war aus der Sicht des Mahāyāna schon ein erleuchtetes Wesen, als er in dieser Welt geboren wurde. Das heißt, er ist eine reine Manifestation des höchsten Dharmakāya. Trotzdem verbrachte der Buddha sechs Jahre unter großen Entbehrungen in tiefer Meditation – und zwar zu unserem Wohl und entsprechend den Anweisungen, die er uns erteilte, um uns den Weg zur Befreiung zu zeigen.

Wir meinen oft, wir könnten angenehm und bequem ohne große Anstrengung Dharma üben. Buddha Shākyamuni jedoch hat sein Ziel unter großen Entbehrungen und Mühen erreicht. Daran sollten wir uns orientieren und nicht denken, der Buddha habe zwar Schwierigkeiten auf dem Weg zur Erleuchtung ertragen müssen, wir aber können es uns bei der Übung des Dharma gut gehen lassen. Das gleiche sage ich auch Christen. Jesus selbst hat unter großen Leiden am Kreuz seinen Weg beschritten. Wenn unsere einzige Übung als Christen darin besteht, in der Kirche schnell ein Kreuzzeichen zu machen, paßt das nicht mit dem zusammen, was uns Jesus vorgelebt hat. Die Religions-stifter sind unser Vorbild, sie zeigen uns, wie wir zu praktizieren haben.

Es ist wichtig, einen Lehrer zu haben, aber wir sollten bei der Auswahl Vorsicht walten lassen. Der Lehrer, dem wir uns anvertrauen, muß die Qualifikation besitzen, uns auf dem spirituellen Pfad zu führen. Der Buddha hat sehr genaue Standards aufgezeigt, denen ein Lehrer genügen muß. Wenn wir uns eine Lehrer-Schüler-Beziehung wünschen, sollten wir die betreffende Person zuerst eingehend prüfen, ohne sie gleich als persönlichen Lehrer zu betrachten. Man kann an den Unterweisungen teilnehmen, sich quasi über die Dharma-Inhalte informieren, ohne eine persönliche Beziehung einzugehen. Wenn wir uns einem Lehrer anvertrauen möchten, können wir uns Zeit lassen und die Person Monate lang, sogar Jahre lang prüfen und beobachten, um festzustellen, ob sie ein geeigneter Lehrer ist. Ich habe schon oft gesagt, daß wir eine lange Nase zum Schnüffeln brauchen, wenn wir einen potentiellen Lehrer überprüfen. Natürlich sollten wir unsere Untersuchung aus einer guten, aufrichtigen Motivation heraus anstellen, im Geiste des Mitgefühls.

Die erste grundlegende Praxis ist die ethische Disziplin. Ganz gleich, ob wir ein Gelübde angenommen haben oder nicht, der Kern der Ethik ist das Vermeiden der zehn unheilsamen Handlungen. Was immer wir im Dharma, in unserer geistigen Entwicklung erreichen wollen, ein einwandfreies ethisches Verhalten, das andere nicht verletzt, ist die unabdingbare Voraussetzung. Wir sollten uns daher Kenntnisse über die zehn unheilsamen Handlungen verschaffen und eine Disziplin entwickeln, mit Hilfe derer wir solche Handlungen vermeiden. Damit die Ethik des Vermeidens der zehn unheilsamen Handlungen entsteht, ist ein Verständnis des Gesetzes von Karma entscheidend. Wir müssen erkennen, daß es einen definitiven Zusammenhang zwischen heilsamen Handlungen und Glück sowie zwischen unheilsamen Handlungen und Leiden gibt. Ursachen, die in ihrer Natur positiv, nützlich sind, reifen definitiv zu einer angenehmen, positiven Wirkung heran. Dagegen gilt für Ursachen, die in ihrer Natur schädlich sind, daß aus ihnen definitiv leidvolle, negative Wirkungen entstehen.

Damit wir sehen, welche Auswirkungen negative Handlungen haben, müssen wir uns mit den drei niedrigen Daseins-formen auseinandersetzen, in die man aufgrund solcher Handlungen geboren werden kann. Dabei sollten wir nicht der Illusion unterliegen, eine solche Wiedergeburt könnte eventuell in ferner Zukunft einmal eintreten, sondern uns bewußt sein, daß unser Todeszeitpunkt ungewiß ist. Wir können in jedem Moment sterben. Sind zum Todeszeitpunkt negative Ursachen in Form von unheilsamem Karma in unserem Geist vorhanden, ist es schon geschehen, und wir werden unmittelbar in einem elenden Daseinsbereich geboren. Wir leben ständig in der Gefahr, in ein niederes Dasein zu fallen.

Wir sollten unseren Geist immer wieder auf den Dharma lenken. Die wichtigste Kontemplation ist die über den Tod. Denken wir intensiv über den Tod nach, der uns jeden Moment ereilen kann, verhindern wir, daß unsere Dharma-Übung ein bloßes Lippenbekenntnis ist. Wir sollten jedoch die Zielrichtung im Blick haben, wenn wir über die Vergänglichkeit kontemplieren und nicht denken: „Alles ist aussichtslos, da ich ja doch sterben werde.“ Dies ist eine sehr traurige Sicht der Dinge. Wenn einmal unser Mut, unser Selbstbewußtsein bei der Dharma-Praxis gebrochen ist, ist dies eine sehr schlechte Ausgangslage. Deshalb müssen wir parallel über die Muße und Ausstattung unseres kostbaren Menschenlebens nachdenken, das heißt über die Möglichkeiten, die wir jetzt haben. Unser Menschenleben hat ein großes Potential. Die Buddhanatur, die Essenz eines Vollendeten steckt in jedem von uns. Es reicht jedoch nicht aus, den Samen für die Erleuchtung zu besitzen – dies ist auch kleinsten Insekten gegeben –, man braucht darüber hinaus ein menschliches Leben, um dieses Potential durch die Schulung des Geistes zur Entfaltung zu bringen. Wir können uns als Menschen, die wir auf die Religion getroffen sind, glücklich schätzen, und wir sollten die Essenz dieses Lebens ergreifen. Unsere erste Aufgabe ist es nach Aryadeva, negative Handlungen einzudämmen.

Das eigentliche Ziel ist die Befreiung. Was die Befreiung hauptsächlich verhindert, sind die Leidenschaften, die verblendeten Geisteszustände. Das Wesen der Befreiung ist nichts anderes als die Abwesenheit der Leidenschaften, die die Ursachen für Leiden sind. Die Leidenschaften sind wirkliche Feinde, sie bringen uns nichts als Schwierigkeiten und Leiden ein. Wenn wir uns fragen, was ist Buddhismus und was nicht, können wir es an diesem Punkt festmachen und sagen: Eine Lehre, die dazu geeignet ist, Leidenschaften zu überwinden, ist buddhistisch. Eine Lehre, die weder direkt noch indirekt dazu verhilft, Leidenschaften zu beseitigen, ist nicht buddhistisch. Man kann noch so viele Wunder-käfte oder Hellsicht besitzen, wenn dadurch nicht die Leidenschaften im eigenen Geist vermindert werden, nützt es nichts. Es gibt verschiedene Schritte, um die Leidenschaften zu vermindern und zu überwinden. Der erste Schritt besteht darin, äußeres, gröberes Verhalten aufzugeben, das von Leidenschaften motiviert ist. Auf der zweiten Stufe gehen wir mehr nach innen, indem wir Mittel anwenden, mit denen wir die Leidenschaften direkt bezwingen. Auf der dritten Ebene beseitigen wir auch die Spuren und Anlagen, die die Leidenschaften in unserem Geist hinterlassen haben, mit den entsprechenden Mitteln. Damit verwirklichen wir den Zustand eines Buddhas.

Was ist ein Buddha? In den Mahāyāna- Schriften wie dem Uttara-Tantra von Maitreya, heißt es, das ein Buddha stets in der tiefen Versenkung der endgültigen, unbefleckten Realität verweilt. Dieses Bewußtsein, das in die endgültige Realität versunken ist, nennt man den Dharmakāya. Er stellt die Verwirklichung des höchsten eigenen Wohls des Buddhas dar. Warum hat der Buddha einen Dharmakāya verwirklicht? Es geht allein um das Wohl der anderen. Der Dharmakāya kann sich in vielfältigen Formen zeigen, wie es den Neigungen und Fähigkeiten der Schüler angemessen ist. Wie Maitreya es beschreibt, manifestiert der Buddha, ohne jemals die Sphäre der endgültigen Realität zu verlassen, aus dem Dharmakāya heraus vielfältige Formkörper zum Wohle der Wesen. Es gibt zwei Arten von Formkörpern, den Sambhogakāya und den Nirmanakāya. Der Sambhogakāya ist ein feinstofflicher Körper, der nur von hohen Bodhisattvas, die ihren Geist intensiv gereinigt haben, wahrgenommen werden kann. Darüber hinaus zeigt sich der Buddha den gewöhnlichen Wesen in den unreinen Welten in grobstofflichen Körpern, die als Nirmanakāya oder Ausstrahlungskörper bezeichnet werden.

In unserer Epoche, dem so genannten Glücklichen Zeitalter, werden der Reihe nach 1000 Buddhas erscheinen. Buddha Shākyamuni ist der vierte von ihnen. Maitreya wird der nächste Buddha sein. Einige behaupten, Buddha Maitreya sei bereits in dieser Welt erschienen. Daran habe ich meine Zweifel. In den Schriften steht, daß Buddha Maitreya erst dann in diese Welt kommen wird, wenn die Lehre des Buddha Shākyamuni völlig von der Bildfläche verschwunden sein wird. Maitreya wird die Lehre neu in der Welt verbreiten; er weilt nicht quasi inkognito jetzt schon unter uns, ohne daß man ihn erkennt.

Die Erklärungen zu den Körpern des Buddhas stammen aus dem Tantra, speziell dem Höchsten Yoga-Tantra, und sie unterscheiden sich von den Ansichten im Sutrayāna. Die Vaibhāshika- Schule beispielsweise sagt: Wenn der Buddha seinen Körper verlassen hat und das Nirvāna ohne Überreste erreicht, ist das Kontinuum dieser Person zu Ende, es löst sich auf. Aus der Sicht des Tantra verhält es sich anders. Hier geht man davon aus, daß der Buddha, nachdem er diese Welt verlassen hatte, weiter aktiv war und den Dharma lehrte. Der Geist des Buddhas wird so lange in den verschiedenen Körpern erscheinen, wie es fühlende Wesen gibt. Im Laufe der Geschichte des Buddhismus gab es immer wieder Menschen, die reine Visionen hatten und vom Buddha direkt Unterweisungen empfangen konnten. So war es zum Beispiel möglich, daß Yogis, die auf dem Pfad sehr weit fortgeschritten waren, Tantras übermittelt wurden. Man kann nicht sagen, daß diese historisch auf den Buddha Shākyamuni zurückgehen. Gleichwohl werden sie von anderen Wesen, die ebenfalls hohe Verwirklichungen auf dem Pfad erlangt und Untersuchungen über ihre Gültigkeit angestellt haben, als fundierte, gültige Übertragungen angesehen.

Selbst heutzutage ist es möglich, daß Menschen eine Vision des Buddha oder anderer Meister wie Nāgārjuna haben und von diesen Unterweisungen empfangen. Dabei handelt es sich nicht um Halluzinationen oder Einbildungen. Es ist, als würden sie diese Heiligen treffen, ihnen von Angesicht zu Angesicht begegnen, um Dharma-Inhalte mit ihnen zu klären. Nehmen wir als Beispiel Dilgo Khyentse Rinpoche, der während der Übertragung einer Initiaton aus der Taglung-Tradition an den Säulen und Querbalken unter der Decke des Tempels all die Lamas der Überlieferung dieser Tradition klar und lebendig vor sich sah. Dabei handelte es sich nicht um Halluzinationen. Dilgo Khyentse, der lange Zeit in chinesischen Gefängnissen verbracht hatte, war ein hochverwirklichter Lama, dem es fern lag, sich wichtig zu machen. Selbst heute sind solche Visionen möglich, wenn man intensiv praktiziert und tiefe spirituelle Erfahrungen macht.

Aus den Unterweisungen S.H. des Dalai Lama im April 1997 in Frankreich. Mit freundlicher Genehmigung des Bureau du Tibet in Paris, das den Besuch mitorganisiert hat. Mündliche Übersetzung aus dem Tibetischen von Christof Spitz.